Freitag, 31. Dezember 2010

Die Identitätspolitik schlägt zurück

Die Sache selbst ist ungeheuerlich, aber eigentlich noch ungeheuerlicher ist es meiner Meinung nach, dass kaum darüber berichtet wurde — und vor allem, dass die in diesem Fall höchst angebrachte große Empörung ausgeblieben ist. Wovon ich rede? Vom sogenannten Penistest. Wer nichts davon gehört hat, und das werden die meisten sein, sei kurz informiert: Um festzustellen, ob (männliche) Personen, die angeben, in ihrem Herkunftsland wegen ihrer Homosexualität verfolgt zu werden, auch tatsächlich homosexuell sind oder das nur behaupten, hatten tschechische Asylbehörden sich ein besonderes Verfahren ausgedacht. Den Asylsuchenden wurden Elektroden an den Penis angelegt und dann wurde ihnen heterosexuelle Pornographie vorgeführt. Wer beim Zuschauen einen Steifen bekam, war als Lügner enttarnt, sein Antrag auf Asyl wurde abgelehnt.
Diese Vorgangsweise wurde lange von niemandem merkbar beanstandet. Bis 2009 ein Verwaltungsgericht in Schleswig-Holstein die Rückführung eines iranischen Asylsuchenden in die tschechische Republik verweigerte. Das Gericht begründete dies damit, dass der Iraner in Tschechien mit Sicherheit „sexologischen und phallometrischen Untersuchungen“ ausgesetzt wäre, weil eine Verweigerung solcher Tests einem amtlichen tschechischen Schriftstück zufolge die Beendigung des Asylverfahrens nach sich ziehen könne. Das Gericht sprach von einem Zugangshindernis zum Asylverfahren, dessen Menschenrechtskonformität nach dem gegenwärtig überschaubaren Sachstand mindestens sehr zweifelhaft erscheine.
Mittlerweile hat auch ein Bericht der in Wien ansässigen Agentur der Europäischen Union für Grundrechte diese erstaunliche Praxis international publik gemacht und kritisiert. Das Verfahren sei für die Asylbewerber entwürdigend und verstoße mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen die Grundrechtecharta der EU. Daraufhin gab das Innenministerium der tschechischen Republik umgehend bekannt, der „phallometrische Test“ werde ohnehin seit Jahresbeginn nicht mehr durchgeführt. Warum man sich allerdings, wenn das überhaupt stimmt, zur Abschaffung entschlossen haben sollte, ist nicht ganz klar. Der tschechische Innenminister Radek John selbst nämlich hat bisher keinerlei Unrechtsbewusstsein gezeigt, im Gegenteil. Vollmundig verkündete er im Rundfunk, Asylbewerber müssten den tschechischen Behörden eben überzeugend beweisen können, dass sie Homosexuelle seien. Andernfalls hätten die Betroffenen keinen Anspruch auf Asyl. Und er setzte, man mag’s kaum glauben, allen Ernstes hinzu: Die betroffenen Asylbewerber hätten selbst um diese Tests gebeten oder ihnen zumindest zugestimmt. Und dann wurde er pampig: Wer sich beklage, solle doch in ein Land gehen, wo diese Tests nicht durchgeführt werden, und dort Asyl beantragen. (Was selbstredend besonders infamer Unsinn ist, denn Flüchtlinge dürfen sich bekanntlich nach EU-Recht ihr Zufluchtsland nicht aussuchen und können es schon gar nicht wechseln.)
Skandalös? Skandalös. Doch hinter dem vordergründigen Skandal, dem perversen Penistets als solchem, steht im abgedunkelten Hintergrund ein noch größerer. Denn abgesehen von der menschenverachtenden Haltung, die sich in einem solch verrückten Verfahren ausdrückt (mag es den wehrlosen Flüchtlingen nun gegen ihren Willen oder mit ihrer erpresster Zustimmung angetan worden sein), haben die tschechischen Bürokraten gleich zwei grobe Denkfehler zur Voraussetzung ihrer ungeheuerlichen Prüfungsmethode gemacht. Zum einen ist durch nichts vorhersehbar, wer auf welche pornographische Stimulation wie reagiert, und keine Reaktion erlaubt für sich genommen eine Aussage über sexuelle Orientierung. So schlicht ist der Mensch nämlich nicht gestrickt. Doch wahrscheinlich haben die mutmaßlich heterosexuellen Entscheider einfach sich selbst zum Maßstab genommen: Ich steh nicht auf Schwulenpornos, also stehen Schwule nicht auf Heteropornos. Entweder oder, mehr gibt’s nicht.
Zum anderen übersieht die leichtfertig über Menschenleben entscheidende Versuchsanordnung, dass keine Rechtsordnung der Welt, auch nicht die allerungerechteste, Homosexuellsein unter Strafe stellt, sondern allenfalls homosexuelle Handlungen. Die aber können nicht nur Homosexuelle vollziehen, und nicht jeder, der eine homosexuelle Handlung vollzieht, ist ein Homosexueller. Das freilich ist die Falle, in der die Erfinder und Anwender des „phallometrischen Tests“ sitzen und in die sie die ihnen ausgelieferten Flüchtlinge treiben wollen: Homosexualität ist eine Eigenschaft der Homosexuellen, basta. Die Heterosexuellen haben damit nichts zu tun, sie betrachten das Phänomen nur von außen.
Jahrzehnte schwullesbischer Identitätspolitik haben es also geschafft. Der Tribalismus — die „Quasi-Ethnisierung“ der Homosexuellen nach amerikanischem Vorbild — ist perfekt. Homosexualität ist im Wesentlichen keine Orientierung mehr, und als solche unter bestimmten Umständen jedem möglich, sondern eine feststehende Identität, definierbar und definierend. Nicht aufs Tun kommt es mehr an, sondern aufs Sein. Wie lautet doch so treffend die klassische Formulierung bei Foucault: „Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist Spezies.“
Wenn es aber, wie es die identitätspolitische Ideologie will, unterscheidbare Menschengruppen gibt, nämlich die Heterosexuellen einerseits, die Homosexuellen andererseits (und allenfalls noch die etwas dubiose Gruppe der Bisexuellen im Niemandsland dazwischen; aber wahrscheinlich sind das bloß Unentschiedene), dann ist es nur noch ein Schritt, bis man an die materielle Nachweisbarkeit der Unterscheidung glaubt. Im Grunde ist darum die Messung des Blutflusses im Gemächte beim Anschauen von Pornographie nur ein schwacher — und freilich die Macher aufgeilender — Ersatz für das, was man sich eigentlich wünscht: Einen Gentest, der das homosexuelle Gen nachweist. Dann wäre das Glück vollkommen.
Die der „Phallometrie“ ausgesetzten Asylsuchenden sind also nicht einfach nur Opfer kafkaesker Bürokraten mit mengelehaften Gelüsten, sie sind vor allem Opfer der herrschenden Identitätspolitik, die, einst als emanzipatorischer Ansatz entwickelt, immer schon problematisch war und sich nun in Fällen wie diesen als lebensgefährliche Falle erweist. Die Menschenverachtung der tschechischen Behörden, perfekt ausgedrückt im souveränen Geschwätz des Innenministers, ist gewiss widerlich. Dass sie so praktiziert werden konnte, wie sie praktiziert wurde, hat allerdings unbedingt, und sei’s unbewusst, die identitätspolitische Konzeption zur Voraussetzung. Man muss erst glauben, dass die Menschen sich in Homos und Heteros einteilen lassen, um sich entwürdigende Methoden einfallen lassen zu können, mit denen diese Einteilung nachgewiesen und zu den Akten genommen werden kann.
Skandalös? Skandalös. Aber es kommt noch schlimmer. Wenn ich heterosexuellen Freunden und Bekannten beiderlei Geschlechts vom perversen Penistest erzählte, erntete ich ein unterdrücktes Gähnen. Man zuckte die Schultern und meinte: Ja ja, das sei schon schlimm, wie mit Flüchtlingen verfahren werde. Das ist zwar durchaus richtig erkannt, aber nicht das Thema. Den Penistest einfach unter die entwürdigenden Behandlungsweisen zu subsumieren, mit denen Europa die zu ihm Flüchtenden zu schikanieren pflegt, um abzuschrecken, verfehlt die Besonderheit dieses Verfahrens. Aber das ist ja wohl auch der Zweck der abwiegelnden, ins Allgemeinpolitische abdrängenden Reaktion. Die Homosexuellen sollen bekanntlich bloß nicht denken, sie seien etwas Besonderes. Elektroden am Penis? Schlimme Sache. Aber da gibt’s noch ganz anderes …
Doch wie könnten Heterosexuelle auch sonst reagieren? Heterosexualität beruht auf der Unterdrückung von Homosexualität. Wer sich selbst als heterosexuell und nichts als heterosexuell begreifen will, kann also gar nicht anders, als Homosexualität als Identität vorauszusetzen. Dass Homosexuelle verfolgt werden, muss er nicht wollen, im Gegenteil, dass sie als von seiner eigenen sexuellen Orientierung abweichende Gruppe konstruiert und als solche anerkannt und zugelassen werden, passt ihm ins Konzept. Man ist ja kein Unmensch. So lange diese Leutchen einen in Ruhe lassen, dürfen sie machen, was sie wollen.
Und die Schwulen? Die meisten verstehen zweifellos ebenfalls nicht, wovon die Rede ist, wenn Identitätspolitik kritisiert wird. Sie haben Sätze auswendig gelernt wie „Ich habe es mir nicht ausgesucht, homosexuell zu sein“ und meinen, damit auf der sicheren Seite zu stehen. Auch für sie ist Homosexualität längst lediglich das Homosexuellsein der Homosexuellen, bestenfalls nehmen sie sie an als ein ihnen zugesprochenes Privileg, sozusagen ein sexuelles Monopol.
Unter diesen Voraussetzungen kann der Penistest auch von Schwulen allenfalls ganz allgemein als unschöner Umgang mit mutmaßlichen Verfolgten kritisiert werden, und es ist ja kein Zufall, dass der empörte Aufschrei der sonst von jeder noch so marginalen Diskriminierung zehrenden Berufsschwulen und Berufslesben ausgeblieben ist. Denen wäre es vielleicht sogar ganz recht, wenn Heterosexuelle, die sich zu Unrecht als verfolgte Homosexuelle ausgeben, aussortiert und in ihre Herkunftsländer zurückverfrachtet würden. Sollen sich die Heteros doch ihre eigenen Asylgründe suchen, und richtige Homosexuelle haben vom Penistest ja nichts zu befürchten.
Nun mag es ja womöglich wirklich Fälle geben, wo Menschen, die nicht wegen in ihrem Herkunftsland entweder strafbarer oder vom Volkszorn bedrohter homosexueller Handlungen verfolgt werden, angeben, doch wegen solcher Handlungen verfolgt zu werden. Mir persönlich ist freilich kein solcher Fall bekannt. Es gäbe ja auch weit bessere und für die meisten Menschen weniger ehrenrührige Asylgründe, die man, wenn man es denn zu müssen meint, erfinden könnte. Ich gehe also davon aus, dass, wer sagt, wegen Homosexualität verfolgt zu werden, das auch tatsächlich wird und unbedingt Schutz verdient. Völlig unabhängig von seiner sexuellen Orientierung oder Identität. Auch ein Mann, der nie wieder Sex mit einem anderen Mann hat, hat das Recht auf Asyl, wenn er irgendwo wegen tatsächlicher oder unterstellter homosexueller Handlungen an Leib und Leben bedroht wird.
Doch ein solches Recht kann nur umfassend eingefordert und verteidigt werden, wenn mit der Identitätspolitik gebrochen wird. Es geht nicht um die Rechte der Schwulen und Lesben (gar der Schwulenundlesben oder Lesbenundschwulen), so als wären diese eine definierbare Minorität wie „die“ Roma und Sinti, „die“ Behinderten oder „die“ Linkshänder. Es geht schlechterdings um das Recht auf Homosexualität für jeden, verstanden als Recht auf homosexuelle Gefühle und Handlungen. Ein solches Recht auf ein vielfältiges Tun ist jedoch offenkundig viel schwieriger zu konzipieren, zu fordern und durchzusetzen als das bequeme und allen in den Kram passende Recht auf ein überschaubares Sein. Denn wenn alle sind, wie sie sind, so und nicht anders, dann ist alles in Ordnung. Wenn aber jeder werden und tun kann, was er will, ist das Bestehende in Gefahr. Gerade darum ist Identitätspolitik schlecht, weil sie nichts anderes als affirmativ sein kann. Und gerade darum muss mit ihr gebrochen und Homosexualität immer wieder kritisch neu gedacht werden.

Da mache ich nicht mit

Ich versteh’s nicht. Ich hab’s noch nie verstanden. Was gibt es da zu feiern? Dass ein neues Jahr beginnt? Das ist doch ein ganz willkürliches Datum. Die römischen Konuln traten am ersten Tag des Januars ihr Amt an, das römische Kalenderjahr freilich begann mit dem Monat März (der also der erste Monat war, wovon September, Oktober, November und Dezember noch Zeugnis ablegen). Da man aber die Jahre nach den Konsuln datierte, verschob sich der Jahresbeginn schließlich auf den ersten Januartag. Später, als es längst keine eponymen Konsuln mehr gab, ließ man das Jahr mit Mariä Verkündigung (25. März, sogenannter Annunziationsstil) beginnen oder mit Ostern oder mit Weihnachten. Oder mit dem Beginn des Kirchenjahres, im Westen ist das der erste Adventssonntag, im Osten der 1. September. Juden, Muslime, Buddhisten usw. haben sowieso alle ihre eigenen Jahresanfänge. Und auch all jene, die, wie die alten Perser und vor ihnen die Babylonier, das Jahr mit dem 21. März, dem Frühlingsanfang beginnen lassen — der zufällig auch mein Geburtstag ist.
Was also gibt’s am 31. Dezember zu feiern? Dass der Heilige Abend eine Woche her ist und man nach all der verlogenen Sentimentalität nun derben Karnevalismus braucht?
Viele haben ja mehr oder minder feste Ritulae, um Silvester zu begehen. Sie müssen „Dinner for one“ im Fernsehen gucken, Sekt trinken, unter Leute gehen, tanzen und singen. Österreicher sind, wie ich wiederholt mit Erstaunen festgestellt habe, genetisch dazu veranlagt und vermutlich per Gesetz dazu verpflichtet, um Mitternacht die Glockenschläge der Pummerin (der großen Glocke des Stephansdomes) zu hören — nicht in Wien Wohnhafte müssen das Radio einschalten — und den Donauwalzer zu tanzen.
Und dann, schon lange im voraus, die schreckliche Knallerei und vielleicht ein Feuerwerk. Überflüssig zu sagen, dass ich davon nichts halte. Zum Glück musste ich nie eine Krieg erleben und bin insofern nicht traumatisiert, aber die akustische Imitation der Belagerung von Stalingrad, die jedes Jahr unter meinem Schalfzimmerfenster stattfindet, ist mir trotzdem zuwider. Lärm um des Lärms willen finde ich noch schlimmer als bloßen Lärm. Ohne Ohrenschutz würde ich das so wenig überstehen wie ein neurotischer Hund.
Der 31. Dezember ist also der einzige Abend, an dem ich mit Sicherheit früh zu Bett gehe. Ich mache mich schalldicht, lese, höre über Kopfhörer Musik, wenn’s geht, und versuche, vor Mitternacht einzuschlafen. Dann bricht draußen die Hölle los und versucht, mich aufzuwecken. Manchmal gelingt es ihr, manchmal triumphiere ich.
Die ganze Silvesterfeierei ist mir also unverständlich und geht mir völlig gegen den Strich. Weder ein religiöser noch ein säkularer Anlass steht dahinter. Bloß gesellschaftliche Konvention. In ihrer hässlichsten Gestalt. Laut und vulgär. Sinnlos. Da mache ich nicht mit.

Allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs trotzdem ein frohes neues Jahr. Aber Achtung, ein Text kommt noch!

Freitag, 24. Dezember 2010

Mein Freund, der Weihnachtsbaum

Hab’ ich es schon erwähnt? Ich kann Weihnachtsbäume nicht ausstehen. Nicht nur fallen sie für mich in die Kategorie der Schnittblumen — und ich konnte es noch nie verstehen, warum man Pflanzen tötet, bloß um irgendetwas zu behübschen. Der sogenannte Weihnachtsbaum ist für mich darüber hinaus aber auch noch ein Symbol des kulturellen Niedergangs. Es gibt nichts, aber schon gar nichts, was das Aufstellen einer toten Tanne mit der Geburt des Erlösers zu tun hätte, trotzdem — oder aber gerade deswegen — hat sich dieser Brauch mit obsessiver Gewalt über den Erdball verbreitet und gehört für viele Menschen so sehr zu Weihnachten wie Kekse und Geschenke. Selbst in und vor Kirchen wird dieses völlig säkulare Ding montiert, sogar auf dem Petersplatz in Rom.
Dass der Weihnachtsbaum nichts Religiöses ist und lediglich dafür gehalten wird, treibt  nun aber ebenso bizarre wie bedrohliche Blüten. Dass nordkoreanische Regime droht mit Krieg, falls der südkoreanische Weihnachtsbauman der Demarkationslinie illuminiert werden sollte, denn derlei gilt den Kommunisten als religiöse Propaganda und die sei in dieser Zone verboten. Und der Bürgermeister des zur Einkreisung der arabischen Stadt Nazareth gehörenden Vorortes Nazareth Illit verbot die von arabischen Christen gewünschte Aufstellung von Weihnachtsbäumen mit der Begründung, es handle sich um eine jüdische Stadt.
Dass Judentum und Atheismus dieselben antireligiösen Affekte teilen und Effekte haben, ist nun für mich eigentlich keine neue Erkenntnis. Dass sich das aber ausgerechnet an etwas Nichtreligiösem und Banalen wie Weihnachtsbäumen offenbart,  stimmt mich bedenklich. Muss ich nun etwa auch noch mit aufgeputztem Nadelholz solidarisch sein? Von den einen angefeindet, von den anderen umgebracht: So wird der Weihnachtsbaum doch noch zum Symbol für den hingeopferten Gottesknecht. Und auch, wenn viele inzwischen ganz andere Halterungen einsetzen, manchen stecken den grünen Freund doch noch in ein sogenanntes Christbaumkreuz. Crucifixus ad festum nativitatis Christi. Wenn das mal keine Ironie der Heilsgeschichte ist …

Sonntag, 19. Dezember 2010

Kein Advent — und dann?

Ohne Advent kein Weihnachten, ohne Weihnachten aber auch kein Ostern. Gemeint ist damit selbstverständlich nicht der Rummel um Eier und Hasen, sondern die auf das Gedenken an Erniedrigung und Tod folgende Feier der Auferstehung. Ohne Advent also keine Erlösung. Dann freilich bleibt die Schuld bestehen, wird immer mehr und mehr, staut sich gewaltig auf, bis alle Dämme bersten und die Welt in einer Flut des Bösen untergeht.
Wer hinsieht, wird bemerken: Die Dämme lecken schon bedenklich. Wer sich nichts vormacht, kann erkennen: Die Welt ist schlecht. Aber all das Schlechte in der Welt ficht die meisten Menschen nicht an, sie haben sich irgendwie darin eingerichtet. Auf verschiedene Weisen. Wer zum Beispiel sowas braucht, hat sich eine Ideologie zurecht gelegt, etwa den atheistischen Evolutionismus, der letztlich nichts erklärt, aber das wohlige Gefühl naturwissenschaftlich begründeten Rechthabens verleiht. Andere habe einfach beschlossen, dass Wichtigste im Leben sei, möglichst viel Spaß zu haben. Wieder andere geben sich bescheiden, wollen bloß halbwegs glücklich sein, mit Familie und Freunden, Einkommen, Gesundheit und Geborgenheit, Hobby und Urlaub. Dass ihr relatives Wohlergehen erkauft ist mit dem Elend und der Entrechtung der meisten Menschen in der übrigen Welt, geht die happy few in den westlichen Wohlstandsgesellschaften (und die gekauften Eliten anderswo) nichts an. Sie haben sich damit abgefunden, schauen weg oder spenden halt was, um ihr Gewissen zu beruhigen. Ein Zusammenhang zwischen ihrem Glück, der Sinnlosigkeit ihres Daseins und dem Unglück anderer besteht für sie nicht.
Schaffen Religionen da Abhilfe? Sollen sie das?
Viele meinen ja, alle Religionen wollten letztlich dasselbe. Was aber soll das sein? Die meisten Menschen, die sich nicht viele Gedanken über Ethik oder Moral machen mussten, würden auf Anfrage sagen, es komme im Leben darauf an, Gutes zu tun und Böses zu lassen. Damit haben sie völlig Recht. Diesem Grundsatz kann keine Religion etwas Relevantes hinzufügen, allenfalls ein paar Einfälle dazu, was denn nun gut und was denn nun böse ist. Was die Einzelheiten betrifft, wird es also wohl immer Diskussionen und einige Unsicherheiten geben, aber die universelle Regel ist klar: Tu Gutes und unterlasse Böses bedeutet, verhalte dich anderen gegenüber so, wie du wolltest, dass sie sich dir gegenüber verhielten, wenn du an ihrer und sie an deiner Stelle wären. Diese selbstverständliche Norm, die keiner weiteren Begründung bedarf, sondern jedem vernünftigen und unverdorbenen Menschen unmittelbar einleuchtet, nennt man bekanntlich die Goldene Regel und findet sie — wie letzten Sonntag schon erwähnt — etwa in Mt 7,12. Auch wenn sie dort von Jesus ausgesprochen wird, ist sie kein Monopol des Christentums. Die Besonderheit und Größe des Evangeliums kommt vielmehr in einer anderen Formulierung zum Vorschein.
Als Jesus von einem Pharisäer gefragt wird, was das wichtigste Gebot sei, antwortet er: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten. (Mt 22,34-40; vgl. Mk 12,25-28 u. Lk 10,25-28)
Die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe wäre, würde sie gelebt, die Besonderheit des Christentums. Gottesverehrung allein, ohne Liebe zu den Mernschen, ist gnadenloser Götzendienst. Nächstenliebe allein stößt an die Grenze des Todes und der unerlösten Schuld. Nur beide zusammen, nur beide in einem sind sinnvoll
Religionen haben nicht, wie manche meinen, die Funktion, moralisches Verhalten zu fördern. Was im Kern unwahr ist, kann auch nur zu einem letztlich unmoralisches Leben führen. Wenn es in den Religionen um nichts anderes ginge, als um die Bedürfnisse und Wunschvorstellungen der Menschen, wären sie im Grunde leer und, weil sie diese Leere verschleierten und von Wichtigerem ablenkten, böse.
Religiosität, verstanden als Offenheit ist für das Dasein Gottes und das Dasein der anderen Menschen, ist nur dann gut, wenn sie wahr ist, wenn es also das Dasein, das geglaubt wird, wirklich gibt. Ob aber geglaubt wird, erweist sich erst in der Praxis. Denn was ist Sünde? Ohne in der Theorie die Existenz anderer Menschen zu leugnen, handeln viele — sagen wir ruhig: zuweilen jeder von uns — so, als gäbe es nur sie, als wären nur ihre Bedürfnisse wichtig, als wären nur ihre Wünsche wert, durchgesetzt zu werden. Dasselbe Verfahren wenden sie auch auf Gott an, leugnen zuweilen aber praktischerweise auch noch in der Theorie dessen Existenz.
Wohin das alles führt und was daraus wird, ist nun freilich selbst wieder eine Frage des Glaubens. Soll man wirklich annehmen, es könne immer so weiter gehen? Kann aus all dem Schlechten von selbst etwas Gutes werden? Versinkt alles in Bosheit? Oder ist es nicht doch eher hoffenswert und glaubwürdig, dass da einer kommen wird, um alles zum Guten zu wenden und zur Vollkommenheit zu führen? Und kann das ein anderer sein als der, der schon alle Schuld auf sich genommen und alle Sünden vergeben hat? Maranatha!

Donnerstag, 16. Dezember 2010

Was denn, die Mafia ist mafiös?

Also das kommt jetzt überraschend! Ein Mafiaboss, der in Mafiageschäfte verstrickt ist? Wer hätte das gedacht … Man muss sich wieder einmal fragen, ob die Überraschung, mit der manche Journalisten und Politiker auf den Bericht von Dick Marty reagieren, dass Hashim Thaci mit illegalen Organhandel befasst war, gespielt ist oder authentische Ignoranz verrät. Dass der Berichterstatter des Europarates Thaci und andere bezichtigt, Ende der 90-er Jahre zahlreiche Serben gefoltert, ermordet und ihre Organe verkauft zu haben, bezeichnet ja nur die Spitze eines ungeheuren Eisberges von Gewalt und Verbrechen.
UCK, PDK, Republik Kosova, kosovarische Mafia — die Firmenbezeichnungen wechseln,  der Betrieb bleibt derselbe. Im Grunde freilich tut man den skipetarischen Clans im Amselfeld und anderswo wohl zu viel der Ehre an, wenn man sie als Mafia bezeichnet. Die ehrenwerte Gesellschaft besaß, früher zumindest, noch so etwas wie einen Kodex von Regeln. Was aber ein echter Albaner ist, der erkennt keine Normen an außer der einen: Profit mit aller Gewalt. Diese Leute verkörpern also den Kapitalismus in Reinkultur. Vielleicht hat das Gesindel auch deshalb im Westen so viele Fürsprecher. Obwohl das Blut ihrer Opfer zum Himmel schreit, hält man besonders die größten Verbrecher konsequent straffrei und hofiert sie sogar als „Politiker“.
Die USA und die EU haben den Albanern, also der „Mafia“, einen Staat geschenkt. Das wäre nicht nötig gewesen, sie hatten ja schon einen. Mit der völkerrechtswidrigen Erhebung der weitgehend serbenfrei gemordeten Provinz Kosovo zur souveränen Republik erfüllte man sich aber den alten Traum, Serbien einmal mehr zu demütigen und zu entrechten. Inwiefern gewisse international operierende Geschäftsleute dabei mit Drogen und Nutten, ihrem Kerngeschäft, bei Diplomaten und Politikern für ihr Anliegen Stimmung machten bzw. auch mal ein bisschen erpresserisch tätig wurden, bleibe dahingestellt. Man darf sich schon auf den EU-Beitritt des Kosvos freuen. Dann steht die europäische Einheit zwar sicher auf vielen Gebieten immer noch aus, aber immerhin die Rotlichtbezirke können dann rasch in einer starken Hand vereinigt werden.
Um nicht des Rassismus geziehen zu werden: Es ist selbstverständlich nicht so, dass alle Albaner der organisierten Kriminalität zuzurechnen wären. Einige arbeiten sicher auch unorganisiert …

Mittwoch, 15. Dezember 2010

Für ein Österreich ohne Armee II

Wozu leisten sich die Österreicher und Österreicherinnen und ihre zahlenden Gäste eigentlich ein aufwändiges und kostspieliges politisches System? Einmal abgesehen davon, dass die meisten Rechtvorschriften ohnehin in Brüssel und Strassburg festgelegt werden: Wofür braucht es in Österreich Parteien, Parlamente und Minister, wenn doch die politische Diskussion und die daraus folgende Praxis ohnehin nicht heimischen Impulsen folgt, sondern einfach vom Ausland abgekupfert wird? Genügte nicht einfach, wie 1938-45 ein von Deutschland zu ernennender Statthalter, der hierzulande umsetzt, was andernorts beschlossen wird?
Oder will man etwa leugnen, dass der Umstand, dass nun auch in Österreich über die Abschaffung der Wehrpflicht zugunsten eines Berufsheeres geredet wird, sich schlicht dem Umstand verdankt, dass der große Nachbar gerade dabei ist, bei sich die Wehrpflicht de jure auszusetzen und de facto abzuschaffen? Eines der vielen politischen Themen, die in Österreich nur vorkommen, weil sie in Deutschland angegangen werden.
Aber der Kleinstaat Österreich ist in einer ganz anderen Lage als der global player Deutschland. Denn dieser braucht seine Streitkräfte, weil er bei den anderen Großenn mitmischen und bei den wirtschaftsmilitärischen Einsätzen der Gegenwart und Zukunft eine Rolle spielen will. (Schon der frühere Bundespräsident Köhler hatte ja ausgeplappert, „dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen“.)
Österreich aber ist in keiner Hinsicht groß. Seine internationalen Militärmissionen haben in etwa die Bedeutung der Entsendung eines Eimer Wassers zu einem Großbrand. Militärisches fällt nicht in die österreichische Kernkompetenz. Ein gutes catering service könnte in Krisengebieten wahrscheinlich mehr Eindruck machen als die paar uniformierten Maxeln. Wie auch immer. Österreichs Wirtschaftsinteressen müssen, wenn schon, dann von anderen militärisch „verteidigt“ werden.
Darum geht die jetzige, von Deutschland abgeschaute Diskussion in die Irre. Österreich braucht kein Bundesheer, ob nun mit Wehrpflicht oder ohne. Wenn schon eine Volksabstimmung, dann gefälligst zu diesem Thema! Warum nicht einmal von einem anderen Nachbarn etwas übernehmen, diesmal aber etwas Sinnvolles: Bei den Eidgenossen gibt es schon seit 1982 eine Initiative „Für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik“. Das sollte hier mal jemand nachmachen.

Sonntag, 12. Dezember 2010

Was tun, während man wartet?

Ach, herrjeh, die Welt ist schlecht und man selbst ist womöglich auch nicht so gut, wie man gern wäre. Gibt es denn also in dieser ganzen Adventvergessenheit gar nichts, worüber man sich freuen kann? Gar keine rosigen Aussichten? Nur, wenn man begreift, dass das ausstehende Ereignis und seine Unerwartetheit zusammengehören. Und weil es nicht möglich ist, Tag und Stunde zu wissen, ist es auch nicht nötig. Es stellt sich immer nur die Frage: Was tun?
Dem Lukasevangelium zufolge kamen die Leute mit genau dieser Frage auch zu Joahnnes dem Täufer. „Da fragten ihn die Leute: Was sollen wir also tun? Er antwortete ihnen: Wer zwei Gewänder hat, der gebe eines davon dem, der keines hat, und wer zu essen hat, der handle ebenso. Es kamen auch Zöllner zu ihm, um sich taufen zu lassen, und fragten: Meister, was sollen wir tun? Er sagte zu ihnen: Verlangt nicht mehr, als festgesetzt ist. Auch Soldaten fragten ihn: Was sollen denn wir tun? Und er sagte zu ihnen: Misshandelt niemand, erpresst niemand, begnügt euch mit eurem Sold! Das Volk war voll Erwartung, und alle überlegten im Stillen, ob Johannes nicht vielleicht selbst der Messias sei. Doch Johannes gab ihnen allen zur Antwort: Ich taufe euch nur mit Wasser. Es kommt aber einer, der stärker ist als ich, und ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe aufzuschnüren. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen. Schon hält er die Schaufel in der Hand, um die Spreu vom Weizen zu trennen und den Weizen in seine Scheune zu bringen; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen.“ (Lk 3,10b-17)
Und der, von dem Johannes der überlieferten Deutung nach sprach, erzählte dem Matthäusevangelium zufolge das: „Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken. Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen? Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben.“ (Mt 25,31-46)
Lässt man die manche verstörende religiöse Einkleidung weg, ergibt sich im Grunde ein ganzes einfaches Programm. „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“ (Mt 7,12a) Handeln die Menschen nicht so, so bereiten sie, wie man allenthaben sehen kann, einander letztlich die Hölle auf Erden. Handeln sie aber so, können sie in aller Seelenruhe erwarten, was es mit dem Himmel auf sich hat oder nicht. Maranatha!

Samstag, 11. Dezember 2010

Für ein Österreich ohne Armee

Was für ein Witzbold! Österreichs Verteidigungsminister ließ über eine kleinformatige Zeitung verlauten, das Bundesheer werde die Hälfte seiner Panzer verkaufen, denn Bedrohungsanalysen hätten gegeben, dass ein Panzerkrieg durch eine Invasion ausländischer Streitkräfte ausgeschlossen werden könne. Selten so gelacht! Für diese Erkenntnis braucht der Mann erst „Analysen“ (hoffentlich keine von sündteuren externen Beratern erstellten)? Das hätte ich ihm auch sagen können. Ja, selbst ein nicht sehr heller Kopf wie er — man wird ja in Österreich nicht Minister, weil man Begabung, sondern weil man ein Parteibuch hat — hätte sich das selbst sagen und Jahre früher handeln können.
Österreich wird bedroht, das stimmt. Aber nicht militärisch. Sondern durch Alkoholismus und Verblödung seiner Bevölkerung. Was das Militärische betrifft, so sollte ein Blick auf die Karte genügen. Außer der Schweiz und Liechtenstein sind alle Nachbarn in der NATO. Liechtenstein hat seit 1866 keine Streitkräfte. Und sollte die Schweiz, die ja für Angriffskriege nicht gerade bekannt ist, Österreich attackieren, sollte die Sprengung des Arlbergtunnels und die Drohung mit der Abtretung Vorarlbergs genügen, das Schlimmste abzuwenden. Gegen die mit Atomwaffen ausgerüstete NATO aber ist sowieso jede militärische Gegenwehr sinnlos.
Österreich hat Streitkräfte so nötig wie einen Kropf. Es handelt sich um sinnbefreites Kriegspielen von halbwegs erwachsenen Männern. Die Abschaffung des Bundesheeres wäre also das einzig Vernünftige, was irgendeine Analyse ergeben kann. Das Geld könnte viel besser eingesetzt werden. Das bisschen Katastrophenhilfe etwa, mit dem sich die Truppe hin und wieder zu profilieren versuchte, könnte besser organisiert und ausgerüstet werden. Und bei Staatsbesuchen engagiert man halt Berufsmusiker fürs Blechgebläse. Den Staatsgästen wäre es wahrscheinlich ohnedies lieber, ein Spalier von Flugbegleiterinnen oder Barkeepern abzumarschieren als irgendein Ehrenkorps.
Das Bundesheer muss weg! Wer Ballerei und Wälzen im Dreck mag, für den gibt’s Abenteuerurlaube. Und wer sich ernsthaft von dem Verein geschützt fühlt, wende sich an einen Psychotherapeuten seines Vertrauens.

Freitag, 10. Dezember 2010

Über China: Kommentar eines Kommentars

Wenn Verbrecher wie Verbrecher aussehen, überrascht das wohl nur den, der westliche Politiker für Ehrenmänner hält. In den Tagesthemen vom 10. Dezember kommentierte Stefan Niemann den „leeren Stuhl“ Liu Xiaobos bei der Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo und das Fernbleiben der offiziellen Vertreter einiger Staaten auf chinesischen Druck hin: „Was für ein Armutszeugnis für die selbstgerechten Herrscher in Peking! Ihre lächerliche Angst vor Andersenkenden offenbart sich heute aufs Neue. Ein leere Stuhl in Oslo wird zum Symbol für Unfreiheit und Unterdrückung in China. Dieses düstere Signal weckt hoffentlich auch die letzten Träumer, die China bedingungslos mit den olympischen Spielen beschenkt und auf dem Weg zur Demokratie gewähnt hatten. Doch jetzt ist klar: Nicht die Reformer, die Hardliner bestimmen den Kurs des Regimes.“
Wer um Himmelswillen hat erst die Osloer Zeremonie gebraucht, um zu wissen, das das chinesische Regime eine Verbrecherclique ist? Wer sind die Träumer, von denen Niemann redet? Gehört nicht auch er, der sich im Tagesthemen-Kommentar vom 30. Mai 2008 explizit gegen einen Boykott der olympischen Spiele in Peking aussprach (auch unter Berufung auf den Dalai Lama), zu denen, die der westlichen Öffentlichkeit falsche Hoffnungen machten? Die glaubten, ein bisschen lauwarmes Gerede über Menschenrechte am Rande der Spiele werde die Machthaber beeinflussen?
China ist seit 1949 eine kommunistische Diktatur. Daran ändert auch die „Marktwirtschaft“ nichts. Tatächlich sind Kapitalismus und Gewaltherrschaft keine Gegensätze. China und Russland einerseits, die USA und Europa andererseits unterscheiden sich nur im Stil, nicht aber im Prinzip von einander. Profitgier und Ausbeutung haben eben viele Gesichter.
Nicht dass Demokratie und Diktatur einfach dasselbe wären. Ein Rechtsstaat ist ein feine Sache, wenn er einen schützt. Aber wie weit geht der Schutz, welche Interessen dürfen nicht verletzt werden? Die einen haben ihren Liu, die anderen ihren Assange. Ob letzterer noch dazu kommen wird, die angekündigten Enthüllungen über eine Großbank durchzuziehen, wird sich zeigen.
Und dann dieses Gerede von „Hardlinern“ und „Reformern“! Ob China oder Iran, Russland oder Kenya — diese dümmlichen journalistischen Phrasen verraten ein simples Weltbild und wollen verdecken, dass hier alles an einem Kriterium orientiert ist: Prokapitalistisch oder „prowestlich“ sind stets die „Reformer“, wer etwas anderes will — sei es nun gut oder schlecht — ist ein „Hardliner“. Aber welchen Sinn haben Reformen, die letztlich nur darauf hinauslaufen sollen, die Fehler des Westens zu kopieren?
Seit Jahren kriechen Journalisten, Unternehmer und Politiker den chinesischen Kommunisten in den Arsch, weil man an dem großen Reibach, den die machen, mitschneiden will. Die Folgen, die die brutale Industrialisierung lokal und global hat, werden ignoriert oder als unvermeidbar hingestellt.
„Unsere Bewunderung für die unbestreitbaren Leistungen des chinesischen Volkes, unsere Anerkennung für den beachtlichen Wirtschaftsboom im Reich der Mitte, sie werden nun überschattet, weil die Machthaber in Peking heute erneut das hässliche Gesicht des Polizeistaates gezeigt haben“, schwafelt Niemann und nimmt seine Zuhörer in moralische Geiselhaft. Wer aber ist denn dieses ominöse Wir, das angeblich die Vermarktwirtschaftlichung Chinas bewundert, ein „Wachstum“, das mit der Entrechtung von Menschen und der Zerstörung ihrer Lebensbedingungen erkauft ist? Über die verheerenden ökologischen Folgen des Turbokapitalismus mit kommunistischem Polizeistaats-Antlitz wird ebenso wenig konsequent und offen berichtet wie über die häufigen Proteste und regelrechten Auftstände in der Bevölkerung. Wenn überhaupt versteckt man derlei in Magazinbeiträgen des Fernsehens und im Kleingedruckten der Zeitungen.
Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo war ein Affront und sollte auch einer sein. Ein paar aufrechte Norweger wagten eine symbolische Geste. Brüskiert sollten sich aber nicht nur die Machthaber in China fühlen, sondern auch ihre Handlanger im Westen, einschließlich all der journalistischen „China-Experten“, die der Öffentlichkeit einzureden versuchen, der Unterschied von Hardlinern und Reformern sei anders als der von Pest und Cholera. China wird nie eine Demokratie werden. Würde es eine, bräche es auf grund seiner diversen sozialen und ethnischen Gegensätze auseinander. Bis dahin aber wird jedes chinesische Regime alles tun, die Bevölkerung in Schach zu halten und mit einer kleinen Schar von Profiteuren auszupressen. Welche natürlichen Ressourcen dabei draufgehen, wird ihnen so wurscht sein wie derzeit der versammelten umweltpolitischen Kompetenz in Cancun und anderswo. Westlicher Lebensstil kann jedenfalls schon auf Grund seiner ökologischen Kosten kein Ziel für China sein. Würde er erreicht, wäre das das Ende der Menschheit.
Statt also die kommunistischen Machthaber in ihren Wahn, mit immer mehr Maktwirtrschaft werde alles besser, zu bestärken, müsste man sie und ihre Politik entschieden bekämpfen. Also nicht nur ihren Polizeistaat, sondern vor allem auch ihren Kapitalismus. Solche Leute verstehen nur die Sprache der Gewalt. Nur ein völliger Boykott Chinas, seine radikale Abschottung vom Weltmarkt und jedem Zugang zu außerchinesischen Ressourcen könnte das Regime beeindrucken, beeinflussen und letztlich stürzen. Denn solange man mit dem Gesindel weiterhin Geschäfte macht, kann ihm das Geschwätz von Menschenrechten und Demokratie letztlich am vergoldeten Arsch vorbei gehen.

Sonntag, 5. Dezember 2010

Ösis allein zuhause

Die von Wikileaks veröffentlichten Depeschen US-amerikanischer Diplomaten werden im Hinblick auf Österreich so zitiert, es bestehe eine Kluft zwischen dem Bild, das die Nation sich selbst von ihrer Rolle in der Welt mache, und Österreichs tatsächlichen, zunehmend bescheidenen Leistung.
Das sitzt. Vor 40 Jahren war Österreich, nicht zuletzt dank Bruno Kreisky, ein kleiner diplomatischer global player, machtlos, aber gern gesehen und nicht ganz ohne vermittelnden Einfluss. Nicht zufällig haben OPEC, IAEO und verschiedene UN-Behörden ja ihren Sitz in Wien. Heute ist Österreich nicht nur klein, sondern auch unbedeutend. Dem heutigen Regierungschef, dem Außenminister und dem Verteidigungsminister wird von den enthüllten US-Depeschen Desinteresse an Außenpolitik bescheinigt.
Das passt. Diese Regierung, dieses Parlament, diese politische Klasse ist ein getreues Abbild, der Bevölkerung, die sie installiert hat. I am from Austria. Mir san mir. Der Rest der Welt interessiert nur punktuell und reduktiv als touristisches Ziel. Die meisten Österreicher fühlen sich unter sich am wohlsten. Schon die „Deitschen“ sind ein Problem. Die, deren Sprache man nicht einmal annäherungsweise spricht, erst recht. Das bekommen Minderheiten, seien sie autochthon oder zugewandert, regelmäßig zu spüren.
Das österreichische Selbstbild ist ein anderes. Man hält sich für gastfreundlich, verwechselt dabei aber Geschäftssinn mit Weltoffenheit. Man träumt sich in die Mitte Europas, lernt aber nicht die Sprachen der Nachbarländer. Man schimpft auf die EU, ist aber auch ein bisschen stolz, mitmachen zu dürfen, und trottet darum brav der BRD hinterher.
Unzählige Ausnahmen des hier skizzierten Bildes ließen sich nennen. Aber sind sie typisch? Sind nicht vielmehr die typisch, denen alles Fremde unheimlich ist und die sich einigeln im wohligen Wirgefühl nationaler Selbstgenügsamkeit? Man schaue den Leuten aufs Maul und grause sich.

Kein Advent, nirgends

Die Abschaffung des Advents und damit der Weihnachtszeit, wie ich sie am vorigen Sonntag behauptet habe, ist nicht einfach eine Kommerzalisierung. Es geht nicht darum, dass ein religiöses Fest von Geschäftsinteressen überwuchert zu werden droht. Es geht darum, dass das Fest und das, was es an ihm zu feiern gibt, im Erleben der Menschen von völlig sachfremden Vorstellungen und Praktiken entkernt und damit vernichtet worden ist. Nein, Weihnachten ist nicht das Fest der Liebe, es ist nicht das Fest der Familie, es ist nicht das Fest des Schenkens, es geht nicht um Punsch und Rentier, dicke Männer mit weißem Bart und roter Mütze, nicht um Lichterglanz, Glocken und Gebäck. Es geht um die Geburt des Erlösers, um die Menschwerdung Gottes.
Daran ist nun weißgott nichts Niedliches. Es gab weise Kulturen, in denen bei jeder Geburt rituell geweint und geklagt wurde. (Noch Alfred Polgar meinte, das Beste wäre es, nie geboren zu werden, setzte jedoch hinzu: Aber wem passiert das schon?) Geboren zu werden ist ein bedauerlicher Umstand, da er ein Hineingesetztwerden in eine Welt der Mühe und des Versagens bedeutet, in ein Dasein voller eigener und fremder Sünden, in ein Leben mit endlich Freuden und am Ende einem unausweichlichen Tod. Dass nun der allmächtige Gott sich das antut, dass er, um als Erlöser am Kreuz zu sterben, als Kind zu Welt kommt, ist erst recht kein Anlass für Sentimentalitäten.
Den meisten Menschen ist freilich das Kernthema von Weihnachten schnurzpiepegal. Für sie geht es um Geschenke und Weihnachtsbaum, um Kindheitserinnerungen und Feiertagsstimmung. Man will etwas, das es wahrscheinlich so nie gab, jedes Jahr wiederhaben. Dazu gehören auch echte und falsche Traditionen, säkulare und religiöse. Zu Weihnachten sind die Kirchen zwar ausnahmsweise einmal voll, aber das besagt gar nichts, das ist bloß Folklore und private Stimmungsmache und hat mit dem restlichen Jahr nichts zu tun.
Der Advent ist ja nicht nur als Zeit im Kirchenjahr abgeschafft, sondern auch als Lebensstil. Nicht nur sind die westlichen Gesellschaften fundamental entchristlicht — wofür die widerwärtigen pseudochristlichen Fundamentalisten nur Zeugnis, nicht Gegenbeispiel sind —, sondern das heutige Christentum selbst ist entchristlicht. Nähmen die, die den Kirchen angehören, deren Lehren ernst, müssten sie jeden Tag die Wiederkunft Christi erwarten. Das tun sie aber offensichtlich nicht, sonst lebten sie nicht, wie sie nun einmal leben. So wie alle nämlich.
Meiner Meinung nach gibt es zwar keine besondere „christliche“ Ethik, sondern nur eine für alle Menschen. Auch Buddhisten, Moslems, Konfuzianer oder Atheisten wissen, dass Lügen, Stehlen und Morden schlecht ist, und erziehen in diesem Sinne auch ihre Kinder. Was aber Christen von Nichtchristen unterscheiden sollte, sind also nicht irgendwelche ominösen „Werte“, sondern der besondere Nachdruck beim Gutseinwollen, der aus dem Glaube ndaran erwachsen müsste, dass man sich für sein Tun und Lassen höchstinstanzlich zu verantworten hat. Dass hat nichts mit einem Kalkül von Lohn uns Strafe zu tun, sondern mit Liebe. Echte Christen müssten Christi Wiederkehr, also den adventus Domini, nicht nur erwarten, sie müssten ihn sogar Tag für Tag herbeisehnen. Allerdings hat man nicht den Eindruck, es gebe allzu viele, die das Jüngste Gericht kaum abwarten können … Maranatha!

Montag, 29. November 2010

Diplomatenpost, na und?

Darf das wahr sein? Ist die Überraschung deutscher Medien angesichts des jüngsten Wikileaks-Coups, der Veröffentlichung von US-amerikanischer Diplomatenpost, echt oder gespielt? Hat man in Deutschland wirklich geglaubt, bei Figuren wie Merkel, Seehofer, Westerwelle & Co. handle es sich um international respektierte Persönlichkeiten? Man kann doch nicht eine solche Gurkentruppe als Regierung installieren und dann so tun, als fielen deren Unzulänglichkeiten und Lächerlichkeiten nur deutsche Kabarettisten auf.
Selbstverständlich hält der US-Botschafter in Deutschland Kanzlerin Merkel für unkreativ, risikoscheu. Das tut doch jeder, der nüchtern ihre Politik betrachtet. Selbstverständlich gilt Guido „Es ist Deutschland hier“ Westerwelle als aggressiv und außenpolitisch inkompetent. Als was denn sonst?
Wenn die mediale Überraschung über die Enthüllungen nicht einfach gespielt ist,. um die Sensationslust zu befeuern, ist sie der perfekte Ausdruck dessen, was seit jeher ein nationales deutsches Problem ist: Man kommt mit Fremdwahrnehmungen nicht zurecht. Man glaubt stets, eigentlich müsse alle Welt „die Deutschen“ liebhaben, befürchtet dabei jedoch zugleich immer, sie täte es nicht. Irgendwo zwischen Überheblichkeit und Minderwertigkeitskomlex siedelt das deutsche Nationalgefühl und geht allen auf die Nerven.
Jedenfalls kann es im ernst niemanden überraschen, dass Diplomaten sich nicht diplomatisch verhalten, wenn sie mit ihrer eigenen Regierung korrespondieren, noch dazu, wie sie glauben durfte, hinter vorgehaltener Hand. Warum hätten sie dabei lügen sollen? Was sie sagten, konnte sich ohnehin jeder denken. Auch ohne sie im Detail zu kennen, war klar, wie die Einschätzungen aussehen, die der amerikanischen Außenpolitik zu Grunde liegen.
Die Enthüllungen von Amtsgeheimnissen durch Wikileaks sind darum eher sensationell als weltbewegend. Manche Einzelheiten mögen für Historiker relevant sein, die großen Züge bieten nichts Neues. (Diese Einschätzung beruht freilich, ich geb’s zu, wie bei den meisten, die darüber reden, auf weitgehender Unkenntnis der Dokumente und also Inforamtionen aus zweiter und dritter Hand. Wer liest schon 250.000 Berichte … Und noch ist ja auch erst ein Teil davo im Netz.) Dass die Saudis das iranische Regime hassen hat eigentlich ebenso wenig Nachrichtenwert wie die Labilität und Paranoia Karsais.
Das jetzt präsentierte Material unterscheidet sich also prinzipiell von den „Afghan war Diaries“ und den „Iraq War Logs“, mit denen Wikileaks früher Aufsehen erregt hatte. Während in den beiden anderen Fällen unter Verschluss gehaltene Dokumente ans Licht gebracht wurden, die in die Öffentlichkeit gehören, damit Regierungshandeln beurteilt werden kann, werden jetzt Selbstverständlichkeiten preisgegeben, die in der Öffentlichkeit nichts zu suchen haben, weil es Diplomaten erlaubt sein muss, ohne diplomatische Rücksichten und also unöffentlich ihre Regierungen zu informieren.
Vielleicht wollte Wikileaks aber einfach zeigen, dass es die US-Regierung gehörig in Schwierigkeiten bringen kann, nachdem diese ihrerseits Wikileaks wegen früherer Veröffentlichungen unter Druck zu setzen versuchte, wozu auch die Kampagne gegen Wikileaks-Sprecher Julian Assange (einschließlich des schwedischen Haftbefehls wegen „Vergewaltigung“) gehört.

Sonntag, 28. November 2010

Die Abschaffung des Advents

Es gibt keine Adventszeit mehr. Alles, was es noch gibt, ist die Vorweihnachtszeit, und die beginnt bekanntlich spätestens irgendwann im September, wenn in den Supermarktregalen die ersten Schokoladennikoläuse auftauchen. Mit Advent hat das aber nichts zu tun. An die Stelle einer besinnlichen, an das erste Kommen Christi erinnernden, sein zweites Kommen erwartenden und darum zu Reue und Buße mahnenden Zeit im Kirchennjahr ist eine Phase im kommerziellen Zyklus geworden. Kitsch und Konsum bestimmen den Stil. Fernab mehr oder minder alter religiöser Überlieferung hat sich ein eigene Mythologie herausgebildet, mit Elchen und Elfen, Weihnachtsmann und Sternenglanz, Schnee und Tannengrün. Eigentlich war die Adventszeit einmal eine Fastenzeit, ihre Farbe darum Violett (und Rosa am vorletzten Sonntag). Heute dominieren Rot und Grün, dazu Gold. So wird der Austausch auch farblich markiert.
Es geht allerdings immer noch darum, sich auf etwas vorzubereiten. Der 1839 erfundene Adventkranz mit seinen Kerzen (ursprünglich vier für die Sonntage und 19 für die Wochentage) und der noch jüngere Adventkalender mit seinen 24 Türchen (oder Säckchen oder dergleichen) haben nur den Sinn, die Zeit bis Weihnachten abzählbar zu machen. Eine Zeit, die heute für die meisten Menschen geistlich ebenso leer wie konsumistisch erfüllt ist. Mit dem ausstehenden Weihnachten assoziiert man wohl meist Sentimentales — und verdrängt dabei Feierstagsstreit und Stress —, mit der Vorweihnachtszeit aber Hektik und Rummel. Nicht nur, dass Geschenke gekauft werden müssen, auch anderes, wie etwa die Weihnachtsmärkte, die eben nur noch selten Adventmärkte heißen, fordert zum Geldausgeben auf.
Nach dem 24. Dezember ist es mit dem ganzen Zauber schlagartig vorbei. Jetzt, wo das Fest eigentlich erst beginnt und die Weihnachtszeit zu feiern wäre, will verständlicherweise niemand mehr Christbaumschmuck sehen und Weihnachtslieder hören. Zum Glück gibt’s Silvester, ein rein säkulares, durch nichts Geistliches belastetes Fest, das mit seiner Ausgelassenheit, mit Papierschlangen, Konfetti, Sekt und Tanzmusik wohl einen Vorgriff auf den Karneval darstellt. Das darauffolgende Fest der Erscheinung des Herrn am 6. Januar — in den östlichen Kirchen das eigentliche „Weihnachten“ — fällt nun allenfalls noch dadurch auf, dass mancherorts Sternsinger (und Sternsingerinnen!) durch die Gegend ziehen. Weihnachten aber, Feier der Geburt Christi, ist längst abgetan. Das ist nur konsequent. Wenn es keinen Weg mehr gibt, braucht es auch kein Ziel mehr zu geben, ohne Advent also auch kein Weihnachten.
Ach du liebe Zeit, was wird da die Wiederkunft Christi für eine Überraschung sein! Maranatha.

Samstag, 27. November 2010

Faszination des Schlechten

Dass es das wirklich gibt! Ich bin überwältigt und fasziniert. Seit einiger Zeit stoße ich beim zapping nachts auf irgendeinem Kommerzsender immer wieder auf die Reklame für CDs des Akkordeon-Duos „Die Kirmesmusikanten“. Ein erstaunliches Erlebnis. Schon mehrmals habe ich den Ton weggedreht und mit fassungslosem Blick auf den Bildschirm gestarrt. Das kann nicht wahr sein! Das ist irgendeine Parodie! Kalkofe oder Kerkeling oder sowas. Das gibt’s nicht wirklich! Und, wenn dann ist es unmöglich, dass das jemand gerne hören und sehen möchte.
Brrr! Es ist so grauslich, dass ich’s kaum beschreiben kann. Ein Mann und eine Frau. Beide völlig unnatürlich, aufgesetzt fröhlich, durchgeknallt. Hampeln und zappeln herum und halten sich Quetschkommoden vor den Leib, die sie bearbeiten, als wäre es zu knetender Teig. Sie hat etwas Pudelartiges auf dem Kopf, das hoffentlich eine Perücke ist, gern auch mit Blümchen darin. Dazu starres Lächeln in einfältig-totgeschminktem Gesicht. Er — ach, das geht nicht. Worte können das nicht fassen. Das muss man gesehen haben (etwa bei YouTube). Krauses Haar und Schnauzbart, irres Lächeln und unentwegtes Zucken: Solche Beschreibung gibt die schreckliche Wirklichkeit nicht annähernd wieder.
Ich habe selbstverständlich inzwischen recherchiert. „Die Kirmesmusikanten“ waren Henny van Voskuylen und Coby van Voskuylen-Mol. Niederländische Stars der „volkstümlichen Musik“. Waren überall dabei, wo den Leuten akustischer Dreck serviert wird, treten aber seit 2000 nicht mehr auf. Sie ist bereits verstorben.
Ich gebe zu, mir waren diese Gruselgestalten bisher völlig unbekannt. Erst einem Tiefpunkt des Werbefernsehens verdanke ich dieses unvergessliche visuelle Erlebnis. Und es gab und gibt Menschen, denen das gefällt? Un-vor-stell-bar. Passt nicht in mein Weltbild. So schlecht mag ich von niemandem denken. Und weil ich’s ja doch muss, weil ich die unerträgliche Realität doch irgendwie in meinen Verständnishorizont zu integrieren habe, kann ich nur meinem Pessimismus freien Lauf lassen und sagen: Eine Zivilisation, die derlei hervorbringt, zulässt und kultiviert, ist durch und durch verkommen und zu Recht dem Untergang geweiht.

Donnerstag, 25. November 2010

Kleiner Großer Bruder

Kauder? Welcher? Ach, der jüngere. Dass ausgerechnet der Vorsitzende des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, Siegfried Kauder, sich jüngst dafür aussprach, bei Bedarf — nämlich bei „Terrorgefahr“ — die Pressefreiheit einzuschränken, ist schon ein starkes Stück. Selbst seinem älteren Bruder Volker ging solches verfassungsfeindliches Gebrabbel zu weit. Es handle sich da um eine Privatmeinung, nicht um die Aufassung der CDU/CSU-Fraktion, ließ er verlauten. Und: Die Pressefreiheit sei ein hohes Gut.
Sein kleiner Bruder hat da eine andere Messlatte: Sei die Gefährdungslage hoch, müssten die Medien dazu verpflichtet werden können, sich „zurückzuhalten“. „Wenn die Presse darüber berichtet, welche Orte besonders gefährdet sind, dann kann das unter Umständen ein Anreiz für Terroristen sein.“ Selbstverpflichtung der Medien oder gesetzliche Regelungen seien denkbar.
Die Logik, die da zum Maulkörble führen soll, erschließt sich allerdings nicht so recht. X plant einen Anschlag. Und weil Y darüber berichtet, führt X ihn durch? Sonst nicht? Bizarr.
In Wahrheit geht es selbstredend um anderes. Der Große Bruder Staat soll aufgerüstet werden. Vorratsdatenspeicherung, Bundeswehreinsatz im Inneren, Einschränkung der Pressefreiheit: Die Gelegenheit ist günstig, es hagelt Vorschläge. Je unsinniger, desto besser, denn indem man einiges für undurchführbar erklärt, kann man anderes umso eher durchsetzen. Der Bruderzwist im Hause Kauder, mag das geplant sein oder instinktiv in Szene gesetzt, ist also vor allem eines: ein Ablenkungsmanöver.

Schulmedizin vs. Homöopathie: Wissen durch Glauben

Je dürftiger die Argumentation, desto schriller die Rhetorik: „Rückfall ins Mittelalter“, „skurrile Heilslehre“, „unsinnige Reform“, „Humbug“, „Aberglaube“. Was aber ist es, das Markus Grill und Veronika Hackenbroch (Spiegel online, 25. November 2010) so aufregt, dass sie zu kreischen anfangen? „Die Homöopathie breitet sich unaufhaltsam an deutschen Hochschulen aus. An etlichen Universitätskliniken ist die Homöopathie inzwischen in der Krankenversorgung etabliert. Mehrere Stiftungsprofessuren verankern die skurrile Heilslehre im akademischen Forschungsbetrieb. Für Medizinstudenten sieht die neue Approbationsordnung die Homöopathie als Wahlpflichtfach vor.“ Welch ein Graus!
Die Homöopathie hat bekanntermaßen Befürworter und Gegner. Grill und Hackenbroch sind bekennendermaßen letzteres. Darum treibt es ihnen verbale Tränen der Wut in die Augen, dass nun sogar der Präsident der deutschen Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, öffentlich eine stärkere Kombination von Schulmedizin und Alternativmedizin gefordert hat, weil er meint, dass zwar die Wirkung von homöopathischen Mitteln nicht naturwissenschaftlich belegbar, trotzdem aber die Homöopathie ein wichtiger Zweig in der Ausbildung von Ärzten geworden sei. Das scharfe Urteil der Spiegel-Experten: „So hat Deutschland einen Ärztepräsidenten, der sich immer weiter von den internationalen Standards der Medizin entfernt.“ Denn Hoppe vertritt angeblich Ungeheuerliches: „Wer hilft, hat recht. Selbst Voodoo-Medizin lehnt er nicht völlig ab.“ Untragbar, der Mann! Das geht doch nicht, einfach bloß den Menschen helfen wollen, statt sich an die Regeln korrekter Denkschemata zu halten.
Denn Hilfe hin oder her, Homöopathie ist nun einmal Mumpitz. „(Die) von Samuel Hahnemann vor 200 Jahren erfundene Heilslehre (gilt) wissenschaftlich längst als widerlegt. Hunderte Studien haben gezeigt: Ihre Grundprinzipien, nach denen Ähnliches mit Ähnlichem geheilt werden solle und sich die Wirkung eines Mittels durch Verdünnen steigere, sind Humbug. Alle berichteten Heilerfolge der Kügelchen liegen allein am Placeboeffekt.“ Mal abgesehen davon, dass die Etikettierung als Palceboeffekt nichts erklärt, weil dieser ja selbst etwas zu Erklärendes ist, werden Grill und Hackenbroch sich schon entscheiden müssen: Haben „hunderte“ Studien nun die Homöopathie „wissenschaftlich widerlegt“, oder gilt, wie sie auch schreiben: „Die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen zur Homöopathie sind von beklagenswerter Qualität. Es geht dabei oft nicht darum, die Methode zu erforschen, sondern ihre Wirksamkeit mit allen Mitteln zu belegen.“
Was denn nun? Alles widerlegt oder alles belegt? Oder gibt es einfach solche Studien und solche? Dann kann man sich selbstverständlich damit behelfen, dass man Untersuchungen, deren Resultate nicht mag, für schlecht gemacht erklärt, denn nur wenn herauskommt, was man schon vorher gewusst hat, kann gut gearbeitet worden sein … — Im Übrigen: Was vor zweihundert Jahren erfunden wurde, kann schwerlich ein „Rückfall ins Mittelalter sein“, wie es schon die Artikelüberschrift behauptet. Da hätte irgendjemand in der Redaktion noch einmal nachrechnen sollen.
Was geifernde Schwätzer wie Grill und Hackenbroch nicht durchschauen, ist das eigentliche Problem: Nicht wahre Wissenschaft und dummer Aberglaube stehen einander gegenüber, sondern zwei verschiedene Glaubenssysteme.
Am Beispel der Homöopathie lässt sich das gut zeigen. Sie ist, wie andere „alternative“ Behandlungsmethoden auch, die offene Wunde der naturwissenschaftlich orientierten Schulmedizin. In diesem Zusammenhang gilt es zwei Tatsachen zu bedenken. Die eine ist, dass schulmedizinische Methoden keineswegs immer erfolgreich sind bzw. dass bestimmte Teilerfolge mit Risiken oder manifesten Schädigungen erkauft werden. Und die andere Tatsache ist, dass unzählige Menschen davon überzeugt sind, mit Homöpathie gut behandelt oder sogar geheilt worden zu sein.
Weil aber die homöopathischen Grundsätze nicht mit einem bestimmten doktrinären Verständnis moderne Naturwissenschaftlichkeit übereinstimmen, ist es ein wichtiges Anliegen der Schulmedizin, jede Wirksamkeit der Homöopathie zu leugnen oder wegzuerklären. Also entweder zu behaupten: Das kann nicht wirken. Oder: wenn es wirkt, liegt es an etwas anderem.
Ein Erklärungsmodell ist der schon erwähnte „Placeboeffekt“. Durch den aber, wie gesagt, eigentlich nichts erklärt wird. Dass unter bestimmten Bedingungen ein Medikament, das gar keines ist, dieselben oder doch sehr ähnliche Wirkungen hat wie ein anerkanntes Medikament, ist ein Phänomen, bei dessen Erklärung naturwissenschaftliches Denken an seine Grenzen stößt. Entweder man schiebt das Phänomen ab zur Psychosomatik, weil der Heilerfolg auf die besonders Zuwendung des Arztes zurückzuführen sei. Oder man sagt, das Scheinmittel wirke, weil die Leute daran glaubten, dass es wirke. Aber was erklärt das? Innerhalb des Modells von unaufhebbarer Naturgesetzlichkeit nichts. Wenn Krankheit und Gesundheit objektiv feststellbare Realitäten sind, kann ein subjektiver Glaubensakt doch eigentlich nichts an ihnen ändern. Kann er es doch, und vieles spricht dafür, müsste der naturwissenschaftliche Ansatz zumindest erweitert werden um eine Berücksichtigung des subjektiven Wohlbefinden des Patienten. Davon ist die real existierende Medizin jedoch größtenteils noch weit entfernt.
Im gewöhnlichen Medizinbetrieb ist der Patient als Person (ebenso wie seine Fragen stellenden Angehörigen) eine Störung. Seine Auskünfte sind ungenügend, sein Verhalten irrational, sein Erleben der Behandlung irrelevant. Er ist ein Organismus, der so und so funktioniert oder eben nicht funktioniert. Er ist ein Fall von dem und dem und als solcher beliebig und austauschbar. Allenfalls aus Konvention und in juristischer Hinsicht wird berücksichtigt, dass er ein Jemand und nicht bloß ein Etwas ist.
In solchem Klima kann die Homöpathie nur als schlechter Witz erscheinen. Es ist nämlich nicht nur die institutionelle Ökonomie, die für Alternatives keinen Raum lässt, sondern dessen vom herkömmlichen Weltbild abweichende Sicht der Dinge. Für Naturwissenschaftsgäubige kann es nur eine absurde Vorstellung sein, dass ein Wirkstoff, der in einer Lösung immer weniger und zuletzt gar nicht enthalten ist, dadurch „potenziert“ würde. Wenn in einem Präparat kein einziges Molekül des anfänglich vorhandenen Stoffes mehr vorkommt, dann kann dieser Stoff gar nicht wirken, ganz abgesehen davon, ob er in anderer Konzentration wirksam wäre oder nicht. Dass es Menschen gibt, die fest von der Wirksamkeit homöopathischer Dosen überzeugt sind, vermag von Anhängern des klassischen naturwissenschaftlichen Weltbildes nur mit Täuschung und Selbsttäuschung erklärt werden.
Hier stößt die Kommunizierbarkeit an eine Grenze. Es hat schlechterdings keinen Sinn, der Wirkung der Homöpathie mit naturwissenschaftlichen Mitteln auf die Spur kommen zu wollen, den insofern diese Mittel und die ihnen zu Grunde liegenden Denkweisen nun einmal sind, wie sie sind, kann dabei immer nur herauskommen, was man bereits wusste, dass es nämlich eine solche Wirkung materiell nicht geben kann. Scheint es sie doch zu geben, ist irgendwas Psychisches im Spiel.
Dem kontern Anhänger der Homoöpathie gern mit dem Heilerflog bei Tieren. Die wissen ja nicht, was ein Heilmittel ist, hegen darum keine Erwartungen und können sich nichts einreden. Allenfalls die Zuwendung durch den Behandelnden könnte in ihrer positiven Wirkung mit der bei Menschen vergleichbar sein; aber wenn Zuwendung genügte, könnte man Tiere stets mit Streicheln heilen …
Homöopathische Behandlung von Tieren ist darum den schulmedizinisch Orientierten ein besonderes Hassobjekt. Wieder und wieder leugnen sie jeden Heilerfolg (oder „erklären“ ihn durch Nichthomöopathisches). Es darf nicht sein, was nicht sein kann. Desungeachtet sind viele Menschen davon überzeugt, ihrem Haustier etwas Gutes zu tun, wenn sie es alternativmedizinisch behandeln oder behandeln lassen.
Letztlich hat es also wenig Sinn, pro-homöopathische und anti-homöopathische Studien miteinander verrechnen zu wollen. Selbstverständlich kann man Machart und Qualität vergleichen. Aber etwa Untersuchungen, die die Wirksamkeit von Homöopathie bei Mensch und Tier belegen, gerade deshalb als „unwissenschaftlich“ abzulehnen, ist zirkulär: X kann nicht sein, wer behauptet, dass X ist, lügt daher, also gibt es X nicht.
Schulmedizin und Homöopathie funktionieren somit wie Glaubenssysteme. Glaube ist stets die Voraussetzung von Wissen. Was auf Grund unhintergehbarer Voraussetzungen nicht möglich ist, kann nicht existieren. Woran nicht geglaubt werden kann, kann auch nicht gewusst werden. Bemerkenswerterweise ist in diesem Fall die Schulmedizin doktrinär und sektiererisch verschlossen, während die Homöopathie eine gewisse Offenheit für neue Erfahrungen besitzt …
Dass es um Angelegenheiten des Glaubens geht, macht auch die Wut der Homöopathiegegner verständlich. Ihr Weltbild ist bedroht, sie möchten am liebsten jede Ketzerei unterbinden. Sie glauben zu wissen, was wahr sein kann; und was andere zu wissen meinen, kann ihnen nur als Irrglaube erscheinen. Dass homöopathische Behandlungen bei aller Regelgeleitetheit auf Erfahrungswissen beruhen wollen, muss ignoriert werden. Nur solche Erfahrungen sind ja zulässig, die mit den im voraus gehegten Überzeuguingen vereinbar sind.
Den meisten Menschen allerdings, die es mit der Alternative von Schulmedizin und Homöpathie zu tun haben, sind solche Glaubensfragen schnurzpiepegal. Wie die gewöhnlichen Gläubigen aller Zeit mischen sie Orthodoxie und Aberglauben je nach momentanem Bedarf und willkürlichem Wohldünken. Hauptsache, es hilft. Lieber lax und gesund als allzu fromm und krank. Solange darum Menschen an die Wirksamkeit von Homöopathie nicht viel anders als an die der Schulmedizin glauben, wird der Siegeszug alternativmedizinischer Methoden nicht aufzuhalten sein. Da mögen die Verteidiger der Rechtgläubigkeit noch so toben. Wer hilft, hat Recht, und dem glaubt man auch.

Samstag, 20. November 2010

Frau über Bord

Hoppla! Schon wieder ist auf dem Segelschulschiff Gorch Fock eine Kadettin aus der Takelage in den Tod gestürzt. Daraufhin wurde die Ausbildung der übrigen 70 Kadetten abgebrochen und diese von Brasilien nach Flensburg geflogen. Ein ähnlicher Unfall einer Kadettin hatte sich bereits 2008 ereignet.
Jahrhundertelang war man in der christlichen Seefahrt  davon überzeugt, dass Frauen an Bord Unglück bringen. Zur See zu fahren war, wie manch anderes, ein reines Männerhandwerk. Heute sind wir da natürlich weiter. Heute müssen Frauen überall mitmachen dürfen. Ob sie dafür geeignet sind oder nicht. Fette kleine Polizistinnen zwängen sich in Uniformen, drücken sich Schirmmützen aufs Haupthaar und watscheln bewaffnet durch die Fußgängerzonen. Das ist ein Ausdruck von Emanzipation. Ebenso bei der Bundeswehr. Und darum, warum nicht?, auch bei der Marine. Dass Frauen für gewöhnlich nicht dieselben Leistungen erbringen wie statistisch vergleichbare Männer, ist bekannt, darf aber als Argument nicht vorgebracht werden. Das wäre ja frauenfeindlich.
Auf der Gorch Fock sind auch schon Männer umgekommen. Noch nie aber wurde daraufhin der praktische Teil der Ausbildung abgebrochen. Ein kleiner Unterschied muss also doch sein. Gibt es da vielleicht doch ein Problem mit der vielbeschworenen Gleichheit von Mann und Frau, über das man nicht reden will?

Donnerstag, 18. November 2010

Schaut mal alle kurz her

Ich habe diesen Werbespot vom ersten Moment an verabscheut.* Da wundert es mich nicht, dass ich im Internet feststelle, dass viele ihn mögen und manche ihn bejubeln.
Was genau beworben wird, ist mir übrigens nicht recht klar. Es hat wohl irgendwas mit mobilem Telephonieren, aber das interessiert mich nicht, ich habe kein „Handy“. Vielleicht geht es  auch gar nicht um ein bestimmtes Produkt, sondern die Firma Vodafone will einfach nur auf sich als Marke aufmerksam machen.
Der Spot scheint in etwa Geschichte zu erzählen: Ein junger Mann photographiert mit seinem Handy das Polaroidbild einer jungen Frau, auf dessen Rand er „Where are you?“ geschrieben hat. Dieses Bild eines Bildes verschickt er mit dem Mobiltelephon. Die nächste halbe Minute wird nun in rasantem Tempo vorgeführt, wie das Bild in zahlreichen Varianten um die ganze Welt geht. Es wird auf t-shirts gedruckt, auf skateboards, es erscheint als graffiti, als mural, als Museumsexponat und als gigantische Leuchtreklame. Wow. Schließlich bekommt der Mann die Nachricht: „I’m here“, und dann taucht zu guter Letzt auch wirklich die Frau auf. Slogan („power to you“) und Markenname. Schluss.
Im Hintergrund plärrt „Empire of the sun“ das Lied „We are the people“. Die Stimme des Sängers finde ich einfach widerlich, aber die sehr schlichte Melodie ist zugegebenermaßen einprägsam. Akustische Hundescheiße sozusagen: unangenehm, aber schwer loszuwerden.
Aus dem Internet erfahre ich, dass der nicht mehr ganz neue song bald nach Erstausstrahlung des Werbefilmchens vor drei Wochen in Deutschland den ersten Platz der Verkaufscharts des Download-Portals iTunes erreichte. Und in den deutschen Single Charts erklommen er immerhin Platz 3. Ich kann mich auf meinen Geschmack verlassen. Was mich nervt, finden die Massen ganz toll. We are the people who rule the world. Ja, stimmt. Leider.
Zurück zum Werbespot. Dass dessen Botschaft auch anders gelesen werden kann denn als rührend-eindrucksvolle Variante von boy meets girl, boy loses girl, boy finds girl again, wird wohl nur wenigen bewusst werden. Man könnte sie aber sehr wohl auch so formulieren. Es gibt kein Entkommen. Die modernen Massenkommunikationsmittel, fest eingefügt in den popkulturellen Lebensstil, erlauben es in kürzester Zeit, alles, auch das Privateste, zum allgemeinen Thema zu machen. Es gibt nichts, das nicht verfügbar wäre, sofern es nach den geltenden Regeln kommunizierbar ist. Für mich eine Schreckensvision. Und nahe der Realität. Dass der ganze kommunikative Apparat nun lediglich eingesetzt wird, um eine banale Liebesgeschichte abzuspulen, macht es nicht besser, im Gegenteil. Die Lektion lautet: Die technischen Möglichkeiten sind da, aber die Leute nutze sie nur für Ablenkungen. Die ganze Welt wird bewegt, aber nur, damit sich nichts ändert.
Wie gesagt, ich fand den Spot vom ersten Ansehen und Anhören an abscheulich.

* http://www.youtube.com/watch?v=ZFqo4WUuRUw

Montag, 15. November 2010

Muttiwahlverein

Geredet hat sie lang und breit, gesagt hat sie nichts. Außer Blabla. (Und Lügen, aber das ist selbstverständlich.*) Mit der rhetorischen Kompetenz einer bildungsfernen Grundschülerin leierte sie eine Rede herunter, die außer Seitenhieben gegen parlamentarische Opposition und sonstige Kritiker nur heiße Luft als Herzerwärmendes für die Wähler, und das waren heute mal bloß die CDU-Delegierten, zu bieten hatte. Zukunftsvisionen oder auch nur klare Programmatik erwartet man von der Frau ja sowieso nicht. Aber immerhin hätte sie wenigstens versuchen können, zur Sache zu sprechen. Stattdessen nur leere Floskeln.
„Dagegen zu sein, das ist das Gegenteil von bürgerlicher Politik. Bürgerliche Politik steht für die Tugenden und Werte, mit denen wir unser Land vorangebracht haben. Bürgerliche Politik steht vor allem für etwas. Für ein gutes, ein besseres Ganzes, für Maß und Mitte. Das ist die Haltung der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Eben gemeinsam für ein starkes Deutschland.“
Dass sie für solch peinlich-beliebiges Nichts auch noch Applaus erhielt, demonstriert das moralische und intellektuelle Niveau der ganzen Veranstaltung. Maß und Mitte eben, oder, knapper, Mittelmaß. Sich bloß auf nichts festlegen, immer bloß Stimmung machen, gegen die und für uns. Wer wer ist, ist sowieso klar. Was wer will auch. Alles soll bleiben, wie es ist, auch wenn dafür manchmal was verändert werden muss. Der Staat schütze die Wohlhabenden und sorge dafür, dass sie unter sich bleiben, indem er den Rest mit kargem Zuckerbrot und demokratisch legitimierter Peitsche in Schach hält. Dafür steht die CDU.
Alles andere ist Quatsch. So auch das Gerede vom Christentum, mit dem neuerdings rechts gepunktet werden soll. „Wir haben ein Zuwenig an Christentum, wir haben ein Zuwenig an Gespräch über das christliche Menschenbild, über die Werte, die uns leiten, über unsere jüdisch-christliche Tradition — das müssen wir wieder selbstbewusst nach vorne bringen, dann werden wir blablaba.“
Wie bitte? Christentum? Zu wenig? Nein: überhaupt nichts. Kein Wort darüber, welche Werte das denn wären, die da beschworen werden, kein Wort, dazu wie dieses Menschenbild denn aussieht, worin denn die angebliche jüdisch-christliche Tradtion besteht. Wie denn auch. Sie sagt nichts dazu, weil es nichts dazu zu sagen gibt. Ihre Politik hat mit Christentum nichts zu tun. Wenn es diese „Werte“ gäbe, man fände sie in ihrem Reden und Handeln nicht wieder. Mutti ist allenfalls so christlich wie Palin, Putin oder Kim Jong Il. Also gar nicht. Oder aber, wenn diese Mischung aus Überheblichkeit, Bösartigkeit, Dummheit und Verlogenheit, die sich da ausdrückt, wirklich „christlich“ wäre, dann wäre ich lieber kein Christ.
Dass ihr dümmlich-lahmes Gereschafel ihr bei diesem Parteitag nicht schadet, sondern nützt, ist leider selbstverständlich. Das ist es, was diese Leute hören wollen. Nichts. Und darum machen sie die Nullnummer erneut zur Chefin. Gratulation! Deutlicher kann man nicht machen wofür man steht: bloße Machtpolitik. Noch erschreckender ist eigentlich nur noch, dass diese Partei Wähler gehabt hat (bei der letzten Bundestagswahl immerhin fast zwölf Millionen) und mit Sicherheit wieder welche haben wird. Ist also das C im Parteinahmen ein Witz, so ist das D geradezu eine Drohung.

* Dafür nur ein Beispiel: In Deutschland haben „wir“ keineswegs „unter drei Millionen Arbeitslose“. Sich die Statistik schönzurechnen, indem man die Definition von Arbeitslosigkeit manipuliert, ist keine echte Arbeitsmarktpolitik.

Mittwoch, 10. November 2010

Muttis Büttel spricht

„Eine Opposition und Demonstranten haben politisch nicht das Recht, gegen eine demokratische Entscheidung zum zivilen Ungehorsam aufzurufen“, verkündete der deutsche Bundesinnenminister Thomas de Maizière vollmundig vor dem deutschen Bundestag. Damit formulierte er das übliche rechte Verständnis von Politik: Wer die Macht hat, hat das Sagen, die anderen sollen das Maul halten, sonst kriegen sie eine auf dasselbe. Die Konzession an die „Demokratie“ besteht darin, dass man hin und wieder wählen lässt. Sobald man aber einmal in Amt und würden ist, macht man automatisch alles richtig oder es muss zumindest so getan werden als ob — denn man ist ja jetzt „demokratisch“ legitimiert.
Man stelle sich vergleichsweise vor, bei jedem Restaurantbesuch müsse man sich, um Essen und Trinken zu können, einen Kellner wählen. Der bestimme dann, in enger Abstimmung mit dem Koch und den Großmarkthändlern, die ihre Waren loswerden wollen, welche Speisen auf den Tisch kommen und konsumiert werden müssen. Und wenn man sich Ungenießbares oder Giftiges zu essen und zu trinken weigere, ja Aufgedrängtes gar wieder ausspucke, werde man als kriminell hingestellt, weil man doch den Kellner gewählt habe.
Typen wie Maizière verwechseln gern Verantwortung und Macht und Macht mit Recht. Weil sie gewählt sind oder durch gewählte Institutionen eingesetzt, denken sie, sie hätten über Recht und Unrecht zu entscheiden. Das ist nicht der Fall. Sie haben, wenn schon, dann einen Auftrag. Erfüllen sie den nicht oder nicht im Sinne der Beauftragenden, haben diese das Recht, sich zu beschweren und dagegen vorzugehen.
Deutsche Bundesminister leisten meines Wissens folgenden Amtseid: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.“ Was haben Laufzeitverlängerung und das Durchdrücken eines ungeeigneten Endlagerstandortes mit dem Wohl des Volkes zu tun? Welchen Nutzen mehr das Verprügeln von Demonstranten? Gehören die Polizisten, die bei solchen Einsätzen verstrahlt werden, nicht zum Volk, darf man ihnen per Dienstanweisung schaden? Gehört es zur Gerechtigkeit gegen jedermann, die Legitimität von zivilem Ungehorsam willkürlich in Frage zu stellen?
Innenminister sind üblicherweise bloß Kettehunde der Mächtigen, sie machen die brutale Drecksarbeit im politischen Tagesgeschäft. Herr de Maizière ist sozusagen Muttis Büttel. So muss man auch seinen Ausspruch verstehen. Er ist kein Beitrag zur politischen Theorie, sondern bloß die ganz alltägliche Kampfansage eines Machtpolitikers an den „Feind“, nämlich den Bürger. Dessen Ungehorsam muss kriminalisiert, sein Widerstand unter Umständen auch mit Gewalt gebrochen werden. Das „Recht“ dazu hat man ja, man ist ja aus Wahlen als der Stärkere hervorgegangen. Na dann.

Undiplomatisch, aber wahr

Wo der Mann Recht hat, hat er Recht. „Außer im Urlaub interessieren sich die Österreicher nicht für andere Kulturen.“ Der Botschafter der Türkischen Republik bei der Republik Österreich, Kadri Ecvet Tezcan, hat der Wiener Tageszeitung „Die Presse“ ein Interview gegeben. Darin spricht er Probleme der Integrationspolitik an und kritisiert sowohl Österreicher als auch Türken. Seine ehrlichen und klugen Äußerungen wurden in der österreichischen Öffentlichkeit jedoch sofort als „Angriffe“ wahrgenommen und von manchen mit scharfen Worten bedacht. Es wird sogar berichtet, der Außenminister habe den Diplomaten, den er, wie dieser selbst angibt, vor einem Jahr zum Antrittsbesuch nicht empfing, zu sich zitiert.
Was nun hat Tezcan eigentlich so Schlimmes gesagt? Eigentlich nichts, was nicht jeder, der in diesem Lande lebt, selbst beobachten kann. Tezcan sagt etwa, es gehe um Toleranz und nennt ein Beispiel. „Jedes Jahr bekommen die Türken einen öffentlichen Ort, einen Park etwa, zugeteilt, um ihr Kermes-Fest zu feiern. Sie kochen, spielen, tanzen, zeigen ihre eigene Kultur. Die einzigen Österreicher, die Kermes besuchen, sind Politiker auf der Jagd nach Wählerstimmen. Wählen geht trotzdem nur die Hälfte der Türken. Die Wiener schauen bei solchen Festen nicht einmal aus dem Fenster. Außer im Urlaub interessieren sich die Österreicher nicht für andere Kulturen. Österreich war ein Imperium mit verschiedenen ethnischen Gruppen. Es sollte gewohnt sein, mit Ausländern zu leben. Was geht hier vor?“
Darauf reagiert der Christian Ultsch, der Interviewer, mit dieser Behauptung: „Viele Wiener haben offenbar Angst davor, dass sie in manchen Stadtteilen zur Minderheit werden und die türkische Kultur dominiert.“ Und der türkische Botschaftert kontert: „Die Welt ändert sich. Es geht nicht mehr darum, wer dominiert und wer nicht. Es gibt keine Grenzen. Je mehr Kulturen es gibt, desto reicher werden wir.“
Nun lässt der Interviewer die Maske des Journalisten fallen und zeigt sich vollends als Ideologe: „Das Problem ist, dass die Gesellschaft in Deutschland oder Österreich nicht mehr an Multikulturalismus glaubt. Das Konzept hat nicht funktioniert.“ Darauf Tezcan: „Warum hat es nicht funktioniert? Integration ist ein kulturelles und soziales Problem. Aber in Österreich ist das Innenministerium für Integration verantwortlich. Das ist unglaublich. Das Innenministerium kann für Asyl oder Visa und viele Sicherheitsprobleme zuständig sein. Aber die Innenministerin sollte aufhören, in den Integrationsprozess zu intervenieren. Wenn man dem Innenministerium ein Problem gibt, wird dabei eine Polizeilösung rauskommen.“
Indem Botschafter Tezscan inhaltlich gar nicht auf Ultschs dummes Gerede eingeht, sondern ein strukturell-institutionelles Problem aufzeigt, erweist er sich als souveräner als der herumzickende „Presse“-Mann, der es gerade noch schafft, den Gesprächsverlauf auf dem Nebengleis zu halten: „Welche Zuständigkeit empfehlen Sie?“ Als hätte das Tezcan nicht bereits implizit beantwortet: „Das Sozialministerium, das Familienministerium, aber nicht das Innenministerium.“
Der ungewöhnlich offenherzige Diplomat geht nun dazu über, Innenministerin Fekter und die deutsche Bundeskanzlerin Merkel für ihre illiberale Geisteshaltung zu kritisieren. Zu Merkel sagt er: „Ich war so überrascht, als sie vor zwei Wochen sagte, Multikulturalismus habe versagt und Deutschland sei eine christliche Gesellschaft. Was für eine Mentalität ist das? Ich kann nicht glauben, dass ich das im Jahr 2010 in Europa hören muss, das angeblich das Zentrum der Toleranz und Menschenrechte ist. Diese Werte haben andere von euch gelernt, und jetzt kehrt ihr diesen Werten den Rücken. Trotzdem will ich nicht sagen, dass die Migranten keine Fehler gemacht haben.“ Letzteres betont der türkische Botschafter immer wieder.
Im Übrigen sagt Tezcan — nachdem der Interviewer ihm ein Wort über Strache abverlangt hat: „Strache hat keine Idee, wie sich die Welt entwickelt“ — auch seine Meinung über die SPÖ: „Ich habe auch noch nie eine sozialdemokratische Partei wie in diesem Land gesehen. Normalerweise verteidigen Sozialdemokraten die Rechte von Menschen, wo immer sie auch herkommen. Wissen Sie, was mir Sozialdemokraten hier gesagt haben? ‘Wenn wir etwas dazu sagen, bekommt Strache mehr Stimmen.’ Das ist unglaublich.“
Wohl wahr. So viel Richtiges aber will Herr Ultsch nicht ohne dummen Kommentar in seinem Blatt stehen lassen. „Viele Österreicher sehen das anders. Sie empfinden Unbehagen bei einzelnen Aspekte der Kultur, die Türken mitgebracht haben. Sie mögen nicht, wie Frauen behandelt werden, sie wollen keine Frauen in Kopftüchern herumlaufen sehen. Sie wollen auch nicht, dass junge Macho-Türken Mitschüler terrorisieren.“
Nein, das wollen sie wohl wirklich nicht. Wenn schon, dann sollen aufrechte Österreicher ihre Mitschüler terrorisieren. Auch das mit den Kopftüchern gilt nur für solche auf Migrantinnenköpfen, oder hat man erlebt, dass einer österreichischen Bäuerin wegen ihres Kopftuches der Vorwurf der Integrationsverweigerung gemacht worden wäre?
Der Interviewte geht auf den offenen Rassismus des Interviewers freilich nicht ein, sondern beharrt auf vernünftigem Diskurs: „Erlauben Sie mir noch eine Frage. Wenn etwas nicht zu Ihrer Kultur gehört, haben Sie dann das Recht zu sagen, Sie wollen diese Menschen nicht? Das ist eine andere Kultur, ein anderes Parfum, eine andere Folklore. Ihr müsst damit leben. Warum habt ihr 110.000 Türken eingebürgert? Wie konntet ihr sie als Bürger akzeptieren, wenn es so ein großes Integrationsproblem mit ihnen gibt? Ihr müsst mit ihnen reden. Die Türken sind glücklich, sie wollen nichts von euch. Sie wollen nur nicht wie ein Virus behandelt werden. Die Gesellschaft sollte sie integrieren und von ihnen profitieren. Ihr müsst keine Migranten mehr holen. Ihr habt sie hier. Aber ihr müsst an sie glauben, und sie müssen an euch glauben.“
Doch Ultsch, der Antimultikulturalist, gibt nicht auf: „Aber Politiker müssen doch zum Beispiel das Recht …“ Ach, jetzt kommt das wieder, dieses „Man muss man doch mal sagen dürfen“! Und was sollen Poliiker Wichtiges zu sagen haben? „… dass sie keine Zwangsheiraten wollen.“ Darauf Tezcan kühl: „Natürlich. Wir wollen auch nicht, dass unsere Töchter zwangsverheiratet werden.“ Es ist schon peinlich, dass der ranghöchste Türke in Österreich es sich gefallen lassen muss, von einem Pseudojournalisten permanent durch Griffe in die Mottenkiste der Klischees, Vorurteile und Ressentiments beleidigt zu werden. So als ob die Türkei, bei allen nach wie vor bestehenden und zum Teil eklatanten Unvollkommenheiten, sich nicht als Rechtsstaat verstünde und es Ankaras offizielle Politik wäre, Frauen wie Ziegen zu tauschen.
Tezcans Souveränität lässt Ultsch nun bockig werden: „Und man kann von Türken auch verlangen, dass sie Deutsch lernen.“ Was soll der Botschafter darauf sagen? Selbstverständlich erwidert er: „Definitiv, ich sage meinen Leuten immer: Lernt Deutsch und haltet euch an die Regeln dieses Landes!“
Nun ist der Interviewer mit seinem Latein am Ende: „Warum also klappt es nicht?“ Der Diplomat klärt ihn auf: „Sie haben es selbst sehr offen gesagt: Die Leute wollen hier keine Frauen mit Kopftüchern sehen. Ist das denn gegen das Gesetz? Nein, ihr habt da nichts zu sagen. Es steht jedem frei, was er auf dem Kopf trägt. Wenn es hier die Freiheit gibt, nackt zu baden, sollte es auch die Freiheit geben, Kopftücher zu tragen. Wenn jemand die Leute zwingt, Kopftücher zu tragen, dann sollte der Rechtsstaat intervenieren.“
Ultsch gibt noch immer nicht klein bei und beginnt ein ziemlich sinnloses Geplänkel über die Erwerbsquote türkischer Frauen, um vom Wesentlichen abzulenken. Schließlich aber muss er kapitulieren: „Sie meinen also, dass die Österreicher den Türken nicht das Gefühl geben, dass sie hier willkommen sind?“ Er hat’s erfasst! Der Botschafter sagt dazu diplomatisch: „Ich werde nicht nur den Österreichern Vorwürfe machen.“ Und er sieht nicht nur schwarz: „Ich sehe viel Erfolg. Es gibt mehr als 3500 türkische Unternehmer hier, 110 Ärzte, Künstler, Ballerinas. Warum bringen Ihre Medien nicht mehr Erfolgsgeschichten?“
Das kann Ultsch nicht so stehen lassen, es muss was Negatives her: „Wer den derzeitigen Ausbildungsstand analysiert, blickt in eine düstere Zukunft. Die meisten jungen Türken gehen in die Hauptschule, viele sogar in die Sonderschule. Haben Sie eine Idee, wie sich das ändern ließe?“ Zumindest hat Botschafter Tezcan etwas Intelligentes dazu zu sagen: „Viele türkische Eltern glauben, dass ihre Kinder perfekt Deutsch und Türkisch sprechen. Ich erkläre ihnen dann, dass man mit 500 Wörtern noch keine Sprache beherrscht und ihre Kinder weder Deutsch noch Türkisch gut sprechen. Hier liegt das Problem: In den letzten 20 Jahren haben uns österreichische Regierungen nicht erlaubt, Lehrer aus der Türkei zu holen, um die Kinder in Türkisch zu unterrichten. Wenn Kinder ihre Muttersprache nicht korrekt lernen, werden sie auch eine andere Sprache nicht gut erfassen. Es gibt in Wien ein Institut für Orientalistik, wo Studenten Türkisch lernen, die auch perfekt Deutsch sprechen. Das Einzige, was fehlt, ist ein Lehrstuhl für Pädagogik. Dann kann Österreich seine eigenen Türkischlehrer haben.
Hurrah, der Interviewer erkennt ein wieder Nebengleis und hält, um von Tezcans eben geäußerter richtiger Analyse abzulenken, mutig darauf zu: „Wie viele Lehrer wollen Sie holen? Sollten die Türken Türkisch als Fremdsprache in der Schule lernen?
Haben Sie je daran gedacht, eine türkische Schule in Wien zu gründen? Sollten türkische Eltern Deutsch oder Türkisch mit ihren Kindern sprechen?“ Auf all das antwortet ihm der Diplomat höflich. Auch auf die zuletzt gestellte dumme Frage nach der häusliche Umgangssprache: „Das werde ich ihnen nicht vorschreiben. Aber ob Eltern, Kinder oder Jugendliche, sie sollten alle Deutsch können.“ Was kann irgendjemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, sonst antworten?
So geht es noch eine Weile weiter. Man spricht über Kroaten und Perser im Vergleich zu den Türken und über den unterschiedlichen Aufstiegswillen, Man spricht über dieses und jenes. Dann sagt Tezcan: „Die Türken in Wien helfen einander. Sie wissen, sie sind nicht willkommen.“ Ultsch ist ratlos: „Warum glauben Sie das?“ Der Botschafter klärt ihn auf: „In dieser Stadt, die behauptet, ein kulturelles Zentrum Europas zu sein, stimmten fast 30 Prozent für eine extrem rechte Partei. Wenn ich der Generalsekretär der UNO, der OSZE oder der Opec wäre, würde ich nicht hier bleiben. Wenn ihr keine Ausländer hier wollt, dann jagt sie doch fort. Es gibt viele Länder auf der Welt, in denen Ausländer willkommen sind. Ihr müsst lernen, mit anderen Leuten zusammenzuleben. Was für ein Problem hat Österreich?“
Gut gesagt. Die Antworten liegen auf der Hand. Österreich hat unter anderem folgende Probleme: zu viele schlechte Journalisten, zu viele unanständige Politiker und vor allem eine Mehrheitsbevölkerung. die entweder ihre eigene familiäre Migrationsgeschichte verdrängt oder aberwitzigerweise gar keine hat und so oder so zu Bösartigkeit im Umgang mit allem Fremden neigt. Das ist nichts Neues. Wann immer aber derlei bisher etwa von Bernhard und Turrini, Jelinek oder Handke geäußert wurde — um nur die literarisch bekanntesten Namen zu nennen —, war die Reaktion Wut und blanker Hass. Auch Kadri Ecvet Tezcan wird sich mit seinen so überraschend aufrichtigen Worten schwerlich viele neue Freunde gemacht haben. Ich jedoch möchte ihm an dieser Stelle dafür danken, dass er der Wahrheit vor der Diplomatie den Vorzug gegeben hat.

Samstag, 6. November 2010

Austrovertikalität

Wenn der von mir geschätzter Radiomoderator und Musikschriftsteller Johannes Leopold Mayer in einer Ö1-Sendung von dem deshalb nicht weniger schätzenswerten Komponisten und Kulturfunktionär Josef Lechthaler sagt, dieser sei von den Nazis wegen seines „aufrechten Österreichertums“ verfolgt worden, so stößt mir das sauer auf. War man da nicht schon weiter? Ist die Lebenslüge der Zweiten Republik, dass die Deutschen die Nazi-Täter und die Österreicher die Nazi-Opfer gewesen seien, nicht längst auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet?
Aufrechtes Österreichertum: Als ob sich Österreichersein und Nazisein je ausgeschlossen hätten. Das tun sie bis heute nicht. Man mag etwa heutigen Hetzern vom Schlage Straches einiges nachsagen können, aber nicht, dass sie unösterreichisch seien. Eher im Gegenteil. Der Nazismus war und ist eine österreichische Spezialität. Hitler etwa kam nur nach oben, weil er ein Exportschlager war. Seine reichsdeutsche Konkurrenten auf dem weiten Feld des Rechtsextremismus konnte der Zuwanderer auf Grund seines österreichischen ideologischen Erbes links liegen lassen. Im Bismarckstaat und seinem Nachfolger hatte man ja allenfalls Erfahrungen mit Polen und Hottentoten. Was herrenmenschliches Ressentiment ist und wie man’s mobilisiert, davon verstanden Deutschösterreicher (und Magyaren) mit ihrer innerkontinentalen Kolonialgeschichte sehr viel mehr. Und auch in puncto Antisemitismus war man seit jeher Vorreiter.
Aufrechtes Österreichertum: Hat Herr Lechthaler als Komponist, Kirchenmusiker, Lehrer, musikpolitischer Akteur  usw. irgendetwas gegen die kulturelle Repression im „zweiten deutschen Staat“ (so bekanntlich die Eigendefinition des austrofaschistischen Ständestaates) unternommen? Die Nazis enthoben ihn seiner Ämter. Aber unter Dollfuß und Schuschnigg war einfach ein braver katholischer Patriot?
Aufrechtes Österreichertum: Die Geschichte Österreichs war bereits zu Lebzeiten Lechthalers eine Verlustgeschichte und ist es bis heute. In Wien (andere Orte kamen dafür meist gar nicht erst in Frage) war man stets bestrebt, alles Fremde, das hätte bleiben können, zu eliminieren. Lueger war aus heutiger Sicht vor allem Antisemit, gewiss; in seiner Zeit jedoch galt er besonders als Antitscheche: Zuwanderern aus Böhmen und Mähren wurde damals beim Bürgereid das Versprechen abgenommen, nur noch Deutsch zu reden.
Aufrechtes Österreichertum: Nach oben buckeln und nach unten treten ergibt noch keinen aufrechten Gang. Eingeigelte Provinzialität ist garantiert keine Garantin für Menschenfreundlichkeit, ganz im Gegenteil. Das Wir-Österreicher-Gefühl hat immer Ausschließungscharakter. Die Mischung aus Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn ist zwar nicht mehr explosiv genug, um im großen Maßstab zu verheeren, für Alltagsrassismus aber reicht es allemal. Gegen die „Deitschen“ ist man sich einig, aber von den „Ausländern“ (zu denen in der öffentlichen Wahnehmung wohl auch die autochthonen Minderheiten gehören) verlangt man: „Red’s gfölligst Deitsch!“