Sonntag, 31. Januar 2010

Moral: Lehre und Wirklichkeit

Da hat aber mal einer den Durchblick: „Wenn sich die Lehre der katholischen Kirche zur Sexualität so weit von den realen Fragestellungen, auch junger Menschen, entfernt, dass sie mit den realen Erfahrungen praktisch nichts mehr zu tun hat, dann führt das die junge Generation zu ganz großen Teilen in eine Sprachlosigkeit“, wird P. Klaus Mertes (SJ), der Rektor des Berliner Canisius-Kollegs von der dpa zitiert. Nun sollte freilich der Aberglaube, es handle sich um Akte der Befreiung, wenn zu Diskursen über Sexualität angereizt werde, seit Foucaults Widerlegung der Repressionshypothese in „Sexualität und Wahrheit“ eigentlich an Kraft verloren haben. Aber bis Berlin ist derlei vielleicht noch nicht durchgedrungen.
Darum geht es aber auch gar nicht. Mertes nicht, der dpa nicht und den vielen Zeitungen nicht, die das Mertens-Zitat (oft in variierter Form) verbreiten. Es geht auch nicht um die angeblichen Missbrauchsfälle im Canisius-Kolleg vor zum Teil mehr als dreißig Jahren. (Von angeblich darf man sprechen, da keinerlei Beweise für die Anschuldigungen erbracht wurden.) Die bilden nur den schaurig-schönen Rahmen.
Worum es geht, sind die Signalwörter „Kirche“, „Lehre zur Sexualität“, „reale Erfahrungen“. Es ist immer dieselbe Leier: Die von der Kirche geforderte Sexualmoral sei nicht mehr zeitgemäß, die Lebenswirklichkeit heutiger Menschen sei eine andere usw. usf. Allerdings ergeben sich bei diese weit verbreiteten Geschwätz einige logische Schwierigkeiten.
Zum einen ist es selbstverständlich so, dass sich, wenn gelehrte Moral und praktizierte Moral nicht übereinstimmen, erstere aber im Wesentlichen seit langem dieselbe ist, offensichtlich nicht die Lehre vom Leben, sondern die Praxis von der Theorie entfernt hat.
Zum anderen kann und soll Moral doch wohl nicht einfach aus dem abgeleitet werden, was die Leute so tun. Handlungen haben sich an moralischen Vorgaben zu orientieren, nicht umgekehrt. Welchen Sinn hätte Moral sonst? Aber darum geht es wohl: Moral abzuschaffen.
Und warum auch nicht. In anderen Lebensbereichen würde das Prinzip „Passe die Regeln dem Handeln an, nicht das Handeln den Regeln“ ja ebenfalls wunderbar funktionieren. Etwa im Straßenverkehr. Wozu denn noch Geschwindigkeitsbeschränkungen, Vorfahrtsregeln, Alkoholverbot am Steuer usw.? Das ist nicht mehr zeitgemäß, denn es entspricht nicht den realen Erfahrungen. Die Leute fahren bekanntlich auch besoffen Auto, rasen und ignorieren Verkehrsschilder. Dem sollte der Staat endlich seine veraltete Straßenverkehrsordnung anpassen!
Aber im Ernst. Man muss die Normen der römisch-katholischen Kirche hinsichtlich sexueller Aktivität nicht billigen, aber auch als Außenstehender kann man ihre zeitlose Konsequenz respektieren: Keine sexuellen Handlungen außerhalb der Ehe von Mann und Frau. Das entsprach zu keiner Zeit den „realen Erfahrungen“, auch vor hundert oder tausend Jahren haben die Menschen schon gewichst, vor und außerhalb der Ehe gefickt, es mit Personen des eigenen Geschlechts getrieben. Na und? Das soll ein moralisches Argument sein? Die Leute haben damals auch gelogen, gestohlen gemordet — und tun es bekanntlich heute noch. Soll darum die kirchliche Lehre hinsichtlich Lüge, Diebstahl oder Mord der „Lebenswirklichkeit“ angepasst werden? Oder hat sich Moral etwa nur im Bereich des Sexuellen den jeweiligen „realen Fragestellungen“ zu fügen? Und warum dann das? Kann man das irgendwie begründen?
Durchblicker à la Pater Mertes sind brav angepasst an den Zeitgeist. Sie plappern das, was die Leute hören (oder lesen) wollen. Mit Moral und deren ernstzunehmender Problematisierung hat derlei aber nichts zu tun.

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