Sonntag, 24. Oktober 2010

Macht Naturwissenschaft dumm?

Aus der Reklame eines Verlages für ein neues Buch: „Moderne Physik ist die Erfolgsgeschichte der Menschheit. Denn die Naturgesetze gelten immer und überall und für alle. Für Außerirdische genauso wie für uns. Vor der Physik sind alle gleich. Fantastisch.“
Nun, „phantastisch“ ist wohl tatsächlich die richtige Bezeichnung für solches Gerede. Woran, wenn man fragen darf, erkennt man, dass die Geschichte der Menschheit eine Erfolgsgeschichte ist? Etwa daran, dass Millionen Menschen hungern, im Dreck leben, an Krankheiten krepieren, in Kriegen umgebracht werden?  Oder daran, dass die sinnlos verschleuderten natürlichen Ressourcen immer knapper werden und dass sich die gewaltigen Schäden am Gesamtlebensraum immer mehr als irreparabel erweisen? Daran, dass Ausbeutung, und Entrechtung weltweit nach wie vor Unheil stiften? Oder etwa daran, dass es der Verblödungsindustrie gelingt, so vielen einzureden, die Moderne sei — auch für sie und nicht nur für die wenigen Profiteurs — ein voller Erfolg?
Aber nicht nur die Wertung ist Phantasterei, auch die Beschreibung. Soll denn die Behauptung, dass „Naturgesetze“ immer und überall gelten, etwa selbst eine naturwissenschaftliche Aussage sein? Oder ist sie nicht vielmehr ganz offensichtlich ein metaphysisches, also ausdrücklich nicht naturwissenschaftliches Postulat? Ohne behaupten zu müssen, die „Naturgesetze“ würden nicht immer und überall gelten, kann man doch sagen, dass es schlechterdings unbeweisbar ist, dass sie es tun. Welche Empririe, welches Experiment sollte eine derartige Hypothese beweisen können?
Ach, warum ärgert mich diese nichtige Werbetext überhaupt so? Weil er dumm ist und mit der Dummheit der Leser und Leserinnen rechnet. Er appelliert an ihr Unwissen und will es vertiefen. Statt kritisch über die Grenzen und Täuschungen naturwissenschaftlichen Denkens zu informieren, wird weiter am Schleier ideologischer Propaganda gewoben. Der moderne Mythos von der Wahrheit, die vor allem oder ausschließlich durch die modernen Naturwissenschaften zu erlangen sei, demontiert sich zwar in der phantasievollen Rede über deren Funktionsweisen, Leistungen, und Erfolge meist ohnehin selbst. So ja auch in diesem Fall. Aber es ist  eben zu fürchten, dass es zu wenige merken. Dann hat die Ideologie ihr wichtigstes Ziel erreicht: Sie hat dumm gemacht.

Dienstag, 19. Oktober 2010

Aufgeschnappt (in der Anstalt)

Das ist der Unterschied: In der Diktatur unterdrückt mich eine Macht, und ich kann nicht wählen. In der Demokratie kann ich wählen, wer mich unterdrückt.
Erwin Pelzig (Kunstfigur)

Sonntag, 17. Oktober 2010

Mutti-Kulti

„Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!“, hat Angela Merkel beim Deutschlandtag der Jungen Union verkündet und damit bestätigt, was schon Horst Seehofer dekretiert hatte: „Multikulti ist tot.“
Was die Herrschaften damit sagen wollen, ist einerseits völlig unklar, andererseits völlig klar. In der Politik ist „Multikulti“ das, was in der philosophischen Debatten (oder solchen, die das sein wollen) ist „Postmoderne“: ein Feindbegriff, der alles und nichts bezeichnen kann, bloß ein diffuses Unbehagen ausdrückt und den Vorteil hat, dass eigentlich niemand sich identifiziert — weshalb keine Klarstellungen zu befürchten sind und man den selbstgewählten Gegner anpatzen darf, ohne dass jemand sich wehren könnte.
Fragte man Mutti und Horsti, was eigentlich das Konzept des Multikulturalismus im Detail sei, kämen sie ins Stottern. Dasselbe gilt mutatis mutandis für die berüchtigte deutsche „Leitkultur“. Lauter leere Vokabeln, anfüllbar mit Ressentiment und Erwartung, mit Hass und Selbstgefälligkeit.
Menschen ohne Stil und mit geringer Bildung wie Merkel und Seehofer verspüren zwangsläufig eine starke Abneigung gegen jede Form von „Kultur“, die nicht mit Spießerglück und Repräsentationspomp zusammenfällt. Je mehr Kultur, desto unruhiger werden sie. Je verschiedener die Kulturen, desto ratloser. Das machte sie zu idealen Volksvertretern. Denn den Durchschnittsdeutschen geht es genauso. Die Welt ist zu groß und diese ganzen fremden Leute versteht ja keiner. Da hält man sich lieber ans Eingemachte. Politiker spüren und befriedigen solche Bedürfnisse — zumindest verbal. Denn direkte realpolitische Folgen hat ihr Gerede ja noch nicht. Oder sind irgendwo im Land beispielsweise die ersten italienischen, türkischen oder chinesischen Resaturants geschlossen oder zur Zubereitung von gutbürgerlicher deutscher Küche genötigt worden? Schon aus konsumistischen Gründen will fast jeder in Deutschland eine multikulturelle Gesellschaft. Aber man will das Gegenteil hören. Und Mutti hat’s jetzt wieder mal gesagt.

Sonntag, 10. Oktober 2010

Von Serbien lernen

Serbien ist ein wunderbares Land. Hier geht es noch um etwas. Wenn dort ein Homosexuellenaufmarsch stattfindet, ist das nicht, wie in westlichen Ländern, ein banales und zutiefst unpolitisches event, sondern ein echtes gesellschaftliches Ereignis. Bei der „Parade des Stolzes“, die am heutigen Sonntag in Belgrad praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, sollen auf jeden Marschierer mindestens fünf beschützende Polizisten entfallen sein. Geschützt musste werden vorm randalierenden Mob. „Die Krawallmacher demolierten Autos, plünderten Geschäfte, rissen Verkehrszeichen aus der Verankerung, setzten Müllcontainer in Brand, warfen Steine“, heißt es im Bericht von „Spiegel online“. Die Polizei sei mit Panzerfahrzeugeangerückt und habe Tränengas eingesetzt.
Wohl dem Land, in dem Schwule (und Lesben?) noch offene Feinde haben. In West- und Mitteleuropa interessieren die Homos keine Sau mehr. Zumindest gibt kein Schwein es zu, wenn es was gegen widernatürliche Sauereien hat. Die katholische Kirche zum Beispiel ist ja eigentlich derselben Meinung wie die serbisch-orthodoxe, dass nämlich praktizierte Homosexualität Sünde sei, wagt das aber öffentlich nicht vorzubringen, schon gar nicht aus Anlass von Schwulenparaden.
Mag sein, dass Serbien ein rückständiges Land ist, ich kann das nicht beurteilen, und selbst wenn ich es könnte, wüsste ich nicht zu sagen ob in einer Welt, in der Fortschritt im Allgemeinen Verlust und Zerstörung bedeutet, Rückständigkeit unbedingt etwas Schlechtes sein muss. Homophobie ist jedenfalls kein Indiz für Rückständigkeit, man wäre denn bereit, auch die USA für rückständig zu halten — aber woran wäre Fortschritt dann noch zu messen, wenn nicht am Paradies des konsumistischen Konformismus? —, denn auch dort wird am Rande jeder Homoparade von Fundamentalisten und Rechtsextremisten (oft in Persunalunion) gegen Widernatur, Unmoral und Zersetzung der Volksgesundheit lautstark demonstriert.
Der Unterschied ist aber eben der, im Falle Serbiens wird in West- und Mitteleuropa darüber berichtet. Dazu tragen die Krawallmacher freilich selber bei, denn mit ihrer Gewalttätigkeit und Zerstörungswut, die mit dem Unmut über einen Umzug von ein paar Homos allein nicht zu erklären sind, stellen sie sich stellvertretend für ihr Land ins Abseits und beschädigen dessen image. Das kommt denen zupass, die Serben sowieso für Barbaren halten und Serbien für ein Land jenseits von Europa.
Die Belgrader Schwulen (und Lesben?) — und erst recht die Schwulen (und Lesben?) anderswo , die sich nun solidarisch empören — sollen sich aber nicht einbilden, die ganze Aufregung sei ihr Verdienst. Im Gegenteil, sie haben besten Gewissens und im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles getan, um Homosexualität als so normal wie möglich hinzustellen. In manchen Gegenden hat derlei scheinbar funktionierten In Serbien nicht. Dort ist man noch ehrlich und macht seinen Schwulenhass öffentlich. Und das ist gut so. Unversehens wird damit ein Aufmarsch, der andernorts bloß schrille Folklore ist, zur politischen Demonstration. Und Schwule (und Lesben?) könnten wieder wissen, worum es politisch gehen sollte, nämlich nicht um Integration in die bestehenden, also schlechten Verhältnisse, sondern um deren Veränderung. Im Westen hat man das längst vergessen. In Serbien ist es mit Händen zu greifen. Davon sollte man lernen.

Samstag, 9. Oktober 2010

Mutti lügt (mal wieder)

Und wieder einmal sagt diese Frau die Unwahrheit. Ob absichtlich oder aus Unwissenheit, spielt eigentlich keine Rolle. So oder so ist es Ausdruck ihrer Politik. „Es gilt das Grundgesetz und nicht die Scharia“, hat Angela Merkel letztens behauptet. Das ist falsch. Denn die deutsche und die islamische Rechtsordnung sind nicht nur in der Theorie keine prinzipiellen Gegensätze, sondern im rechtspraktischen Alltag wird auch in Deutschland seit langem immer wieder die Scharia angewandt.
Wer’s nicht glaubt, kann es beispielsweise in einem Interview mit Mathias Rohe (Islamwissenschaftler, Richter am Oberlandesgericht und Professor für Bürgerliches und Internationales Recht an der Universität Erlangen) nachlesen, das die „Frankfurter Rundschau“ im Jahre 2002 [sic] publizierte, das den Titel trägt: „In Deutschland wenden wir jeden Tag die Scharia an“ und wo es unter anderem heißt: „Wenn ein Mann einreist, der in seinem Heimatland nach den islamischen Vorschriften rechtmäßig mehrere Ehefrauen geheiratet hat, akzeptieren wir diese polygame Ehe auch hier. Es gibt sogar im Sozialgesetzbuch entsprechende Vorschriften, zum Beispiel wenn es um Rentenanwartschaften geht. Würden wir das nicht tun, würden wir den Frauen Steine statt Brot geben. Denn sie haben sich ja darauf eingestellt, was ihre Versorgung angeht.“
Bei „Spiegel online“ immerhin kennt man dieses Interview und erwähnt weitere Beispiele: „Immer wieder berufen sich deutsche Richter auf die Scharia: So lehnte das Bundessozialgericht in Kassel vor einigen Jahren die Klage einer Marokkanerin mit dem Verweis auf islamisches Recht ab. Die Witwe hatte sich geweigert, die Rente ihres Mannes mit der Zweitfrau zu teilen. Beiden Gattinnen stehe der gleiche Rentenanteil zu, betonten die Richter. In einem anderen Verfahren gestand das Oberverwaltungsgericht in Koblenz auch der Zweitfrau eines Irakers eine Aufenthaltsbefugnis zu. Nach fünf Jahren Ehe in Deutschland sei es ihr nicht zuzumuten, allein in den Irak zurückzukehren. In Köln verpflichteten Richter einen Iraner, nach der Scheidung 600 Goldmünzen Morgengabe an seine Ex-Frau zu zahlen. Sie stützten sich dabei auf die in Iran geltende Scharia. Zu einem ähnlichen Urteil kam das Oberlandesgericht Düsseldorf, das einen Türken zu 30.000 Euro Morgengabe an seine ehemalige Schwiegertochter verurteilte.“Und nun, Frau Merkel? Wäre es nicht Zeit für den Rücktritt? Wer entweder so schamlos die Unwahrheit sagt oder so völlig unwissend ist, darf so jemand im Amt bleiben? Ist das (deutsches) Recht?

Nobelpreis gegen Kommunisten

Endlich einmal hat das vom norwegischen Parlament eingesetzte Komitee zur Vergabe des Friedensnobelpreises eine mutige und richtige Entscheidung getroffen. Zur Auszeichnung für Liu Xiaobo kann jeder anständige Mensch nur aus vollem Herzen Ja sagen. Das ihm zur Last gelegten Verbrechen hat er nicht begangen, er hat nicht zur "Untergrabung der Staatsgewalt" angestiftet, sondern die kommunistische Diktatur kritisiert. Dass diese ihn dafür zu elf Jahren Gefängnis veurteuilt hat, ist selbstverständlich - und das eigentliche Verbrechen.
Nun wird sich zeigen, wie all die westlichen Politiker, Unternehmer und Journalisten, die bisher Chinas Machthabern in den Arsch gekrochen sind, mit der Osloer Entscheidung umgehen. Werden die Forderungen nach Freilassung Lius mehr als Phrasen sein? Wird man Chinas zu erwartetenden Sanktionen entgegentreten? Oder wird man, wie bisher, alles hinnehmen, was die kriminelle Clique, die 1,2 Milliarden Menschen in Geiselhaft jält sagt und tut - um der Profite willen?
Der Nobelpreis für Liu Xiaobo mag für Chinas Machtahber unangenehm sein. Für den Westen aber ist er eine echte Herausforderung. Wird man sie bestehen?

Montag, 4. Oktober 2010

Freie Bahn für Betonierer

Vielen Dank für die Nachhilfe in Staatsbürgerkunde. Der Chef der Deutschen Bahn, Rüdiger Grube, klärte gestern in „Bild am Sonntag“ (wo sonst …) die Gegner von „Stuttgart 21“ darüber auf, dass es ein Widerstandsrecht gegen einen Bahnhofsbau nicht gebe. „Bei uns entscheiden Parlamente, niemand sonst.“ Das Projekt sei demokratisch ausreichend legitimiert.
Aha. Gut zu wissen. Da hat einer aufgepasst. Na ja, nicht ganz. Legal mag das Mammutprojekt ja mehr oder minder sein. (Ob das Fällen der 282 Bäume im Schlosspark nicht den Juchtenkäfer gefährdet und damit gegen den Artenschutz verstößt, ist freilich noch zu klären.) Seine Legitimität hingegen steckt, um das mindeste zu sagen, in der Krise.
Im 21. Jahrhundert ist es eigentlich außer in Diktaturen nicht mehr üblich, Infrastrukturprojekte dieser Größenordnung ohne ständige Arbeit an der Akzeptanz bei der betroffenen Bevölkerung durchzuziehen. In Stuttgart gab es zwar 1997 eine „offene Bürgerbeteiligung“. Beschlüsse wurde erst danach gefasst. Seither freilich sank die Zustimmungsrate, Umfragen zufolge, ständig. Heute scheint eine Mehrheit der Stuttgarterinnen und Stuttgarter gegen das Vorhaben zu sein.
Nun gibt man aus guten Gründen für gewöhnlich nichts darauf, was das „Volk“ will, lässt es bloß alle paar Jahre zum Urnenngang antreten und bietet ihm ansonsten Brot und Spiele. Im parlamentarischen System ist der angebliche Souverän bloß ein notwendiges Übel. Je besser man ihn durch Institutionen in Schach hält, umso effizienter lässt sich Politik gestalten. Demokratie heißt ja nicht, wie manche glauben, dass das Volk regiert, sondern, viel realistischer, dass das Volk seinem Regiertwerden zustimmt.
Hier nun setzt das Versagen von Leuten wie Mappus ein. Die Formalitäten hatte man erledigt, der Rechtswegs war eingehalten worden und ist somit fürderhin ausgeschlossen. Nur ist Stimmung (und Zustimmung ist bei Kollektiven primär Stimmungssache) eben nicht durch Formalakte steuerbar. Im Vertrauen auf die eigene Macht und vielleicht sogar im ehrliche Glauben an die eigene Rechtmäßigkeit hat man bei den Betreibern des Bahnhofsumbaus völlig übersehen, dass das ganze mitten in der Stadt stattfindet, dass Abreißen und Bäumefällen nicht heimlich geschehen kann und dass Bilder zählen und nicht Argumente. (Ganz abgesehen davon, dass die Argumente der Projejktgegner auch nicht zu verachten sind.)
Indem sie die Demonstranten „aus der Mitte der Gesellschaft“ behandelt, als handle es sich um Öko-Spinner und Krawallmacher, zieht sich die Stadt- und Landespoltik selbst den Boden unter den Füßen weg. Gegen Randgruppen (am besten rechtlose) kann man brutal sein. Die Wählerinnen und Wähler aber braucht man eines Tages wieder. Und wenn die bis zur Landtagswahl die Polizei-Attacken bzw. die Bilder davon nicht vergessen, sieht’s duster aus für die Schwarzen im Ländle.

Sonntag, 3. Oktober 2010

Unglaublich gebildet?

Ein schönes Beispiel, für die Dümmlichkeit der Berichterstattung, die zeitgenössische Medien gerne pflegen: Ungläubige wüssten besser über Religionen Bescheid als Gläubige, wird in Presse und Internet als Nachricht verbreitet. Dabei beruft man sich auf eine Umfrage eines US-amerikanischen Demoskopieinstitutes, die ergeben habe, dass Atheisten im Durchschnitt 21 von 32 einschlägige Fragen richtig beantworten konnten, Protestanten hingegen durchschnittlich nur 16, Katholiken 14,7, Juden 20,5 und Mormonen 20,3. Der Durschnitt aller habe bei 16 richtigen Antorten gelegen.
Man darf allerdings an der Aussagekräftigkeit dieser "Ergebnisse" zweifeln. Nicht nur, weil anscheinend keine Muslime, Buddhisten, Hindus usw. befragt wurden ...
Bekanntlich ist Bildung als solche in den USA ein rares Gut und, wie überall sonst in der Welt, eng gekoppelt an Herkunft und Einkommen. Wer was und wie viel über Religionen weiß, hat weniger mit seinen religiösen Überzeugungen zu tun als mit seiner sozialen und ökonomischen Position. Grob gesagt: Unter den armen Migranten und deren Nachfahren sind mehr Katholiken, während der Anteil von Juden und Atheisten unter den Reichen hoch ist.
Dass Atheisten mehr über Religionen wüssten als Theisten, mag als Schlagzeile vielen in den Kram passen. Aber es ist falsch. Nicht Ungläubigkeit oder Gläubigkeit entscheiden über religiöse Bildung, sondern wer mehr Geld hat, kann auch mehr davon für die Erziehung seiner Kinder ausgeben.

Freitag, 1. Oktober 2010

Morgenrot in Stuttgart

Schon 1968 sang Alexandra: „Mein Freund der Baum ist tot, er starb im frühen Morgenrot.“ Heute hat man noch vor Morgengrauen in Stuttgart die ersten der 282 Bäume zu fällen begonnen, die dem Bauprojekt „Stuttgart 21“ zum Opfer gebracht werden sollen. Um ehrlich zu sein, mir ist es völlig egal, ob sich der Bahnhof der badisch-württembergischen Landeshauptstadt über der Erde, unter der Erde oder auf kilometerhohen Stelzen in den Lüften befindet. Was mir Tränen der Trauer und Wut in die Augen treibt, ist der Mord an uralten Platanen. Ich kann die Leute gut verstehen, die gegen das Wahnsinnsvorhaben protestieren, mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln.
Unrecht wird ja nicht dadurch Recht, dass es im Gesetz steht oder von gewählten Volksvertretern so beschlossen wird. Das ist die Spießervorstellung vom Rechtsstaat. Sie ist moralisch unhaltbar. (Bei „Legal Tribune online“ stellt Oberregierungsrat Dr. jur. Alfred Scheidler fest, „gezielte Blockadeaktionen, mit denen die Bauarbeiten verhindert werden sollen“ seien „nicht hinnehmbar, da von Art. 8 GG nicht mehr gedeckt“. Dass sogar das deutsche Grundgesetz in Artikel 20 Absatz 4 ein Widerstandsrecht anerkennt, bleibt unerwähnt. Dieses gründet übrigens nicht in solch staatlicher Satzung, sondern nach weitverbreiteter Auffassung im Naturrecht.)
In Deutschland, so ist oft bemerkt worden, scheitern Revolutionen schon daran, dass das Betreten des Rasens verboten ist. In Stuttgart dürften nun einige besorgte Bürgerinnen und Bürger bemerkt haben, dass dieses Verbot nur ihnen gilt, während Holzfäller, Bauarbeiter und Polizisten den Rasen sehr wohl betreten und ihn sogar umpflügen dürfen.
Man muss nur einmal den Stuttgarter Polizeichef in seinem behäbigen Suebo-Hochdeutsch in Kamera und Mikrophon sagen hören: „Ja, das ist die Stuttgarter Polizei“, während im Hintergrund Kinder und Jugendliche von vermummten Bütteln verprügelt und verätzt werden, um zu verstehen, dass die Volksseele kocht. Aus polizeilicher Sicht und der der CDU sind die Demonstranten selbst schuld, immerhin wurden sie von der Staatsmacht mehrfach aufgefordert, den Schlosspark zu räumen. Wer nicht tut, was die Polizei ihm sagt, der hat offensichtlich das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) verwirkt. Aus der Sicht der Obrigkeit gelten alle Rechte eben nur so lange, bis sie der Ausübung staatlicher Gewalt im Wege sind.
Dass Protest gerade darin bestehen kann, dass man sich über Vorschriften hinwegsetzt, ist eine Lektion, die die Stuttgarterinnen und Stuttgarter wohl schweren Herzens lernen müssen. Denn nichts liebt der Deutsche mehr als Vorschriften und vor allem deren Einhaltung durch andere. Ordnung muss sein. Besonders in Schwaben. Dass an der Ordnung aber auch mal etwas nicht in Ordnung sein kann, ist derzeit aber im Schlosspark und um den Schlosspark herum mit Händen zu greifen.
Mammutbauprojekte hatten seit jeher auch den Zweck, die Untertanen zu disziplinieren: Staudämme, Wolkenkratzer, Pyramiden, chinesische Mauern. Dass ausgerechnet im Ländle gegen die Selbstherrlichkeit der Souveränitätsvertreter nun aus der Mitte der Gesellschaft Protest entstanden ist, macht beinahe optimistisch. 282 Bäumen werden derzeit nach einander getötet. Bleibt zu hoffen, dass spätestens bei der Landtagswahl solche Politik gefällt wird.