Montag, 25. April 2011

Vorösterliche Dummschwätzerei II

Christoph Kardinal Schönborn, Erzbischof von Wien und Vorsitzender der österreichischen Bischofskonferenz, ist studierter Theologe. Das wusste ich bereits. Dass er auch Volkswirt, Versicherungsmathematiker und Sozialfuturologe ist, ist mir neu. Doch das muss er ja wohl sein, wenn er seine in der ORF- Fernsehsendung „Niederösterreich heute“ am Karsamstag getätigten Aussagen ernst meint. Dort hat der Kirchenfürst nämlich verkündet, dass durchschnittliche Pensionsantrittsalter müsse angehoben werden. „Wir werden länger arbeiten müssen. Mit 58 Jahren in Pension, das geht nicht“, wird er zitiert.
Nun, Seine Eminenz hat als Mitglied verschiedener Kurienbehörden selbstverständlich ganz anderen Zugriff auf die Schätze unter anderem der Vatikanischen Geheimbibliothek als unsereiner. Vielleicht liegen ihm also andere Dokumente vor als mir, denn ich für meinen Teil kenne jedenfalls keine Stelle in den Evangelien, wo Jesus sagt: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Arbeitnehmer mit 58 in Rente gehen darf.“
Auch sonst kann ich mir eigentlich keine theologische Argumentation denken, die darauf hinausläuft, dass der Pensionsantritt mit 58 unzulässig, einer mit 59, 60, 65 oder 75 aber von Gott gefordert sei.
„Es wird einfach nicht anders gehen, dass wir alle länger arbeiten — soweit es irgendwie möglich ist.“ Woher weiß der Kardinal das so genau? Kann er in die Zukunft sehen? Hat er wirklich die zunehmende Produktivität mir der prognostizierten Bevölkerungsentwicklung verrechnet? Oder schwatzt er nur nach, was Stammtische, Parteizentralen und unternehmerfreundliche Meinungsmacher so absondern? Kann er irgendeinen Grund nennen (irgendeinen, wenn schon keinen theologischen), warum es falsch sein soll, dass immer weniger Menschen den Unterhalt für alle erwirtschaften können? Wenn das unzulässig ist, müsste man hierzulande die Kinderheit wieder einführen …
„Wir alle wissen, jeder der hinschaut, dass es so nicht geht“, sagte Schönborn. Ich weiß nur: So geht’s ja nun wirklich nicht. Statt das Märchen von der bedrohlich kippelnden Alterspyramide neu aufzutischen, das von seriösen Nachrechnern längst widerlegt ist, hätte der Kardinal mal etwas Triftiges über Proftigier, über die ungerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums oder über das bedingungslose Grundeinkommen sagen können. Stattdessen Stammtischparolen! Noch dazu ohne jeder theologische Begründung oder Relevanz. Im Gegenteil. In dem er das Geschäft der entsolidarisierenden, deregulierenden, ausbeutungsgeilen „Reformer“ betreibt, tritt Schönborn seinem Herrn ausgerechnet am Karsamstag kräftig gegens Schienbein. Denn hatte sich der Heiland etwa übers Pensionsantrittsalter Gedanken gemacht? Oder nicht vielmehr gefordert, dass den Hungern und Dürstenden, den Unterversorgten und Obdachlosen, den Fremden, den Kranken und Gefangenen geholfen werde und die Menschen einander wie Brüder und also nicht wie Nutzvieh behandeln? Ich zweifle kleinen Augenblick daran, dass Seine Eminenz unbedingt dafür eintritt, dass genau das geschieht. Aber seine politischen Dummschwätzereien sind kontraproduktiv. Das Evangelium ist (anders als die Protestanten lehren) nicht mit dem Kapitalismus vereinbar. Statt mit dem Detail des Pensionsantrittsalters — das freilich durchaus symptomatisch ist — hätte sich der Kardinal lieber mit dem Gesamtzustand einer Gesellschaft beschäftigen sollen, in der kollektiver und individuelle Egoismen zunehmen und der Klassenkampf von oben und aus der Mitte nach unten sich verschärft. Darüber also hätte ein verantwortlicher Seelsorger mal zu reden und auch theologisch Begründbares zu sagen.
Was Christoph Schönborn als Privatperson so denkt, ist seine Sache. (Und interessiert mich nur sehr bedingt.) Wenn er aber die öffentliche Aufmerrksamkeit, die er als Kardinal, Erzbischof und Vorsitzender der österreichischen Bischofskonferenz zum Glück noch findet, dafür nützt, seine unqualifizierten Pivatmeinungen zu verkünden, dann ist das gewissermaßen Amtsmissbrauch. Und zumindest höchst unanständig.

Vorösterliche Dummschwätzerei I

Dass die Vorsitzenden des Rates der „Evangelischen“ Kirche in Deutschland gern einen politischen und auch sonstigen Allzuständigkeitsanspruch erheben, hat eine gewisse Tradition. Der unangenehm mediengeile „Bischof“ Wolfgang Huber hatte es so gehalten und die noch unangenehmere und noch mediengeilere „Landesbischödfin“ Margot Schulze, geschiedene Käsmann, bekanntlich erst recht. Auch Nikolaus Schneider, Präses der „Evangelischen“ Kirche in Rheinland und derzeitiger EKD-Vorsitzender, kann der Versuchung nicht widerstehen, zu Dingen, die ihn in seiner öffentlichen Funktion gar nichts angehen, seinen Senf dazuzugeben.
So geschehen etwa in einem Interview mit dem „Hamburger Abendblatt“, das am Karsamstag veröffentlicht wurde. Darin leitet Schneider seine Zuständigkeit scheinbar geschickt aus banalen Floskeln ab: „(…) jede theologische Auslegung der biblischen Botschaft fragt ja danach, wie man die eigene Glaubensgewissheit für das tägliche Leben und damit auch für die Politik nutzbar machen kann. Insofern geht es darum, die öffentliche Bedeutung des Evangeliums beispielsweise mit Blick auf die Lage in Japan oder den arabischen Staaten zu veranschaulichen.“ Da ja nun immer alles irgendwie mit irgendeiner Bibelauslegung zu tun haben kann, kann Schneider als „Theologe“ erfreulicherweise zu allem irgendetwas sagen. Und das tut er auch.
So begrüßt er im Hinblick auf Libyen „die deutsche Zurückhaltung gegenüber dem Kriegseinsatz. Wenn man in so ein Land reingeht, muss man vorher wissen, wann und wie man wieder rausgeht. In Libyen ist das kaum zu beantworten.“ Wenigstens ganz sicher nicht von Herrn Schneider.
Als nun das „Abendblatt“ einwirft, die katholische Kirche halte den Einsatz für richtig, macht Schneider einen halben Rückzieher: „Ich würde nicht so weit gehen und diesen Einsatz rechtfertigen. Aber ich kann die Gründe für den Einsatz nachvollziehen.“
Und dann gibt der Protestantenhäuptling die Leitlinien der deutschen, ja der europäischen Politik vor. „Deutschland muss alles dafür tun, dass die internationale Gemeinschaft mit Gaddafi verhandeln kann.“ Irgendein Argumtent, warum das eigentlich so sein soll, bringt Schneider selbstverständlich nicht. Er weiß das einfach. Auf Rückfrage könnte er aber gewiss eine hübsche Bibelstelle dazu anbieten. Übrigens mit Sicherheit bei Bedarf auch für die gegenteilige Ansicht …
Leichte Zweifel an Schneiders weltpolitischer Kompetenz werden freilich geweckt, wenn er sagt: „Erst macht Europa Geschäfte mit Gaddafi und sorgt dafür, dass er die Flüchtlinge aus Afrika von uns fernhält. Und auf einmal jagt Europa Raketen nach Libyen. Das kann ich beim besten Willen nicht verstehen.“ Jeder, der sich je ernsthaft für die imperialistischen Politiken der USA, Frankreichs oder Deutschlands interessiert hat, wird das hingegen sehr wohl verstehen. Machtpolitik kennt keine Moral, das Profitinteresse von Rüstungskonzernen erst recht nicht..
Doch woher soll Schneider derlei wissen? Seine völlige Weltfremdheit gibt der flexible Bibelausleger ja schon mit ein paar Sätzen zu erkennen, die ab Lächerlichkeit kaum zu übertreffen sind. Es geht um Fukushima und die Nukleartechnologie. „Frau Merkel ist Physikerin. Sie weiß, wovon sie redet. Sie war bisher der Meinung, das Restrisiko könne man gesellschaftlich und technologisch vertreten. Jetzt weiß Frau Merkel, dass das nur bedingt gilt. Ich nehme der Bundeskanzlerin ab, dass sie nicht nur wahltaktisch gehandelt hat, sondern etwas neu erkannt hat. Die Fähigkeit, Positionen zu überdenken und neu zu diskutieren, ist eine Stärke und keine Schwäche.“ So dumm darf man eigentlich nicht einmal als Protestant sein. Wenn er das wirklich ernst meint, sollte er rasch einen Psychotherapeuten aufsuchen. Merkel ist genauso wenig eine nachdenklich-lernfähige Physikerin wie Putin ein lupenreiner Demokrat. (Der einleitende Kommentar der Zeitung der Zeitung hatte übrigens gelautet: „Im Abendblatt-Interview beweist er einmal mehr, dass er keine Furcht davor hat, der Politik auf die Füße zu treten.“ Vielleicht wäre eine Gruppentherapie zu empfehlen? Redakteure und Kirchenfunktionär reden im Sesselkreis über ihren Realitätsverlust?)
Gegen Ende des Interviews verkündet Herr Schneider ein bizarres Motto: „Je mehr vom Protestantismus hörbar und erkennbar wird, desto besser.“ Das Gegenteil ist wahr. Dummschwätzer jeder Konfession sollen den Mund halten. Besonders, wenn sie bloß Stammtischmeinungen äußern, die keinerlei theologische Begründung oder Relevanz haben. Was ein Herr Schneider als Privatperson so denkt, ist seine Sache. (Die mich zum Beispiel nicht im mindesten interessiert.) Dass er aber zur Kundgabe seiner von keinerlei Sachkenntnis beleckten Privatmeinungen die Aufmerksamkeit missbraucht, die er als EKD-Vorsitzender leider bekommt, ist unanständig und ein öffentlicher Skandal. Den naturgemäß keiner bemerken will.

Sonntag, 17. April 2011

Palmarum

Wenn aber nun also, wie an den vorangegangen Sonntagen argumentiert wurde, zum einen die Goldene Regel eine ausreichende Grundlegung der Ethik darstellt und zum anderen nicht das Fürwahrhalten von Glaubenssätzen, sondern der Vollzug eines (zumindest impliziten und unter Umständen gar nicht bewussten) bejahenden Gottesverhältnisses in tätiger Nächstenliebe genügt, um der ewigen Seligkeit für würdig befunden zu werden — wozu dann noch die verschiedenen Christentümer?
Tatsächlich hat Jesus Christus, auf den die Christentümer sich berufen, selbst kein e Konfession namens „Christentum“ begründet (und erst recht nicht, wie es modisches Vorurteil will, eine Art „Reformjudaismus“), sondern er hat das Evangelium vom kommenden Gottesreich verkündet, er hat Jünger zur Nachfolge aufgerufen und er ist, wie es heißt, gestorben und auferstanden. Und damit ist der entscheidende Punkt berührt, an dem Logos und Mythos einander kreuzen.
In der Liturgie gibt es die Frage nach dem mysterium fidei (dem Geheimnis des Glaubens), die so beantwortet wird. Mortem tuam annuntiamus, Domine, et tuam resurrectionem confitemur, donec venias. (In deutscher Fassung: Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.)
Hier sind wesentliche Glaubensaussagen verdichtet. Nach kirchlicher Lehre ist in Jesus Christus Gott erschienen, denn nur er, der ganz Gott und ganz Mensch ist, kann Gott und Mensch versöhnen, die durch die Sünde entzweit sind. Was aber wäre die schlimmste aller Sünden, das größte aller Verbrechen, wenn nicht der Mord an Gott selbst? Indem nun der Sohn Gottes sich von den Menschen hinrichten ließ, also den Tod, der ja nach christlicher Lehre nichts Natürliches, sondern Lohn der Sünde ist, auf sich nahm, so der zentrale christliche Mythos, kaufte er, der einzige Unschuldige, die wahren Schuldigen los („loskaufen“ ist bekanntlich die wörtliche Übersetzung von „erlösen“) und überwand den Tod, nicht nur für sich selbst, sondern ein für alle mal für alle. Darum wird von der Kirche die Taufe (also wörtlich das „Eintauchen“ im Sinne eines symbolischen Ertrinkenmachens) als Hinneinnahme in den Tod Christi und damit auch als Verheißung der Auferstehung vollzogen.
Überwindung des Todes bedeutet selbstverständlich nicht, dass niemand mehr stürbe, sondern dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Das letzte Wort überhaupt ist nach Überzeugung der Jünger Christi dasselbe wie das erste Wort, also das Wort Gottes — womit eben nicht irgendwelche von Menschen verfasste Schriftstücke gemeint sind, sondern der Sohn Gottes selbst, der auferstandene Menschensohn.
Dass dieser wiederkehren wird, ist unaufgebbarer Teil des christlichen Bekenntnisses. Die Welt ist nicht ewig, die Geschichte ist nicht endlos, sondern die alles Endliche strebt seinem Abschluss und seiner Vollendung im Unendlichen zu. Es gibt ein Ende der Zeiten: Aus zeitlicher Sicht wird es erst kommen, sub specie aeternitatis aber ist es „immer schon gewesen“.
Diese Wiederkehr des Auferstandenen — um die Lebenden und die Toten zu richten, wie es in den Glaubensbekenntnissen heißt — beendet den historischen Prozess und ist sozusagen der letzte Akt der Erlösung, die mit der Menschwerdung begann, mit Tod und Auferstehung ihren Höhepunkt hatte und mit der Himmelfahrt Christi eine Art Verzögerung einleitete, die dann ihr ersehntes Ende haben wird. Das ist es, was am Palmsonntag als Tag der Erinnerung an den Einzug Jesu Christi in Jerusalem gefeiert wird: Die Hoffnung auf die Wiederkehr des Erlösers und den Abschluss der Erlösung.
Ich habe diese Geschichte als Mythos bezeichnet, keineswegs, um sie abzuwerten (zumal für mich ist das Mythische nicht minderwertig ist), sondern um anzudeuten, dass es eine Erzählung ist, die erst im Glauben zur Wahrheit wird. Die Goldene Regel und ihre Folge, das richtige Tun, kann als vernünftig behauptet und von jedem Gutwilligen eingesehen werden, unabhängig von religiöser und sonstiger Einstellung. Die Behauptung von Tod, Auferstehung und Wiederkehr aber ist eben ein mysterium fidei, das sich nur dem erschließt, der es annimmt.
Dazu hatten alle vor Christus Lebenden keine Chance und auch die nicht, die aus anderen Gründen nie etwas von ihm gehört haben oder nur Unzureichendes oder die ein Christentum vorgelebt bekommen, das sie abstoßen muss. Soll man nun annehmen, alle diese seien vom Heil ausgeschlossen? Manche Theologen haben das behauptet. Doch wie bereits in der „Predigt“ zum 5. Fastensonntag erwähnt wurde, lehrt Jesus etwas anderes. Nimmt man dieses Evangelium ernst, kommt es nicht darauf an, dass der zu Erlösende  Christ ist (im Sinne einer Konfessionszugehörigkeit), sondern nur darauf, dass Christus der Erlöser ist. Die verwirklichende Annahme der Erlösung von Seiten des Einzelnen geschieht nicht als Erwerb einer Vereinsmitgliedschaft, sondern als Vollzug eines — wie gesagt möglicherweise unbewussten — Gottesverhältnisses, also des Bejahens des Guten. Wer demnach so lebt, dass er das tut, was er von anderen an Gutem erwartet, wer also unter anderem die Hungernden und Dürstenden, die Flüchtlinge und Obdachlosen, die Armen, Kranken und Gefangenen wie seine Brüder behandelt, der hat es richtig gemacht und muss kein Gericht fürchten, auch und gerade nicht das Jüngste. Und auch der, der weiß, dass er fehlbar ist und nicht immer alles richtig gemacht hat, muss sich nicht fürchten, sondern er kann sich vertrauensvoll der Barmherzigkeit des Ewigen überlassen. Na, dann kann der Richter und Erlöser ja kommen …

Donnerstag, 14. April 2011

Zum Kommentar zu „Judica“

Der Kommentator meiner theologischen Skizze „Judica“ hat gewiss Recht, wenn er darauf hinweist, dass eine sorgfältige Luther-Exegese (gegebenenfalls vermehrt um eine Exegese Calvins und anderer?) eine differenziertere Sicht dessen erlaubte, was ich kurzerhand den „urprotestantischen Aberglaube vom ‘Glauben allein’“ genannt habe — obwohl man selbst dann, wie ich meine, die reformationstheologische „Verwerfung der Heilsnotwendigkeit guter Werke“ wohl schwerlich wird bestreiten können.
Nun habe ich allerdings bewusst „urprotestantisch“ gesetzt und nicht „urlutherisch“ oder „urlutheranisch“, um mich nicht auf das subjektive Selbstverständnis dieses oder jenes Autors zu beziehen (zumal in einem genügend reichhaltigen Werk sich fast immer Belege für eine Aussage und ihre Einschränkung, ja ihr Gegegenteil finden lassen werden) und dessen innere Inkonsequenz nachzuvollziehen, sondern auf die spezifischen objektiven Wirkungen, die protestantische Denk- und Handlungsweisen in der Geschichte gehabt haben. Bei Max Weber etwa kann man, wenn ich mich recht erinnere, nachlesen, dass die sogenannten Reformatoren selbst zwar keine Freunde des kapitalistischer Geisteshaltung und Handlungsweise gewesen sein mögen, dass aber der berüchtigte „Geist des Protestantismus“ entscheidend an der Beförderung des Kapitalismus mitgewirkt hat.
Ich nenne das Vorgehen der „Reformatoren“ übrigens deshalb inkonsequent, weil man wohl nur auf sehr verschlungenen Umwegen von der behaupteten Gnadenwahl und Willensunfreiheit zu moralischen Appellen, ja ethischer Normativität kommen kann. Ich jedenfalls muss zugeben, nie verstanden zu haben, was es bringen soll, Menschen, deren Willen man für unfrei hält, zu richtigem Handeln aufzufordern, zumal über ihr Heil oder Unheil ohnehin schon im Voraus entschieden sein soll von einem Gott, der keinerlei Verdienst anerkennt und völlig willkürlich festlegt, wer in den Himmel oder in die Hölle kommt. (Auch der Glaube ist ja den „Reformatoren“ zu Folge kein anerkennenswertes Verdienst, da auch er ausschließlich von Gott gewährt oder verweigert wird und nicht vom Menschen in freier Entscheidung angenommen oder zurückgewiesen werden kann.)
Aber die Pointe meiner Argumentation in „Judica“ ist eine ganz andere als eine Beantwortung der Frage, ob „gute Werke“ sozusagen praktische Nebeneffekte des theoretischen Glaubens sind oder aber eine mit eigenem Sinn und eigener Würde ausgestattete Heilsnotwendigkeit für den Gläubigen darstellen. Vielmehr versuchte ich mit Mt 25,31-46 (in verdeutlichender Verbindung mit Mt 7,21) zu argumentieren, dass das gute Tun selbst bereits der heilsnotwendige „Glaube“ ist und zwar unabhängig davon, wovon jemand überzeugt zu sein meint. Wobei „Glaube“ hier eben nicht verstanden wird als Fürwahrhalten von Sätzen, sondern als Vollzug eines Verhältnisses zu Gott. — Welchen Sinn dann überhaupt noch Theologie und Liturgie haben und warum sie nicht einfach zugunsten umfangreicher Sozialarbeit aufgegeben werden können, werde ich dann am nächsten Sonntag zu skizzieren versuchen.

Dienstag, 12. April 2011

Aufgeschnappt (bei einem Lutheraner)

Die Kirche befindet sich in einer Zwickmühle: Gleichgültig, ob sie ihre Botschaft weiter religiös entkernt oder genau mit jenen politischen Strömungen Gemeinschaft sucht, die sie am Ende aus dem öffentlichen Raum verdrängen wollen – am Ende ist die kirchliche Besonderheit infrage gestellt. Gibt es eine Lösung? Ja, wir sollten den Weg einer Minderheiten-Kirche gehen. Nicht einer verschwindenden, sondern einer starken, kämpferischen Minderheit. Die Kirchen sind wegen Privilegien bei abnehmender geistlicher Leistung satt geworden. Faszinierende Botschaften sehen anders aus, und mit Grünen-Rhetorik füllt man keine Gottesdienste.

Dr. Michael Inacker (Vorsitzender der Internationalen Martin-Luther-Stiftung sowie Bereichsleiter für Unternehmenskommunikation & Public Affairs bei der Metro AG)

Sonntag, 10. April 2011

Judica

Dass man sich und alle anderen in letzte Instanz der Barmherizgkeit Gottes anheimstellen muss, ist keine Einladung zu ethischer Indifferenz oder selbstgenügsamem Quietismus. Man mag zurecht das Konzept von Lohn und Strafe als allzu geschäftsmäßig in Frage stellen und darauf verweisen, dass kein menschliches Verdienst die ewige Seligkeit gleichsam erkaufen kann. Gleichwohl ist der urprotestantische Aberglaube vom „Glauben allein“, der die verächtliche Verwerfung der Heilsnotwendigkeit guter Werke bedingt, eine völlige Pervertierung des Evangeliums. Denn worin besteht ein solches Geglaube, das ohne praktische Dimension auskommen zu können vermeint? Doch bloß in einem letztlich selbstgefälligen Fürwahrhalten. „Glaube“, der nur irgend ein Vermeinen ist und nicht Vollzug, im Zweifelsfall also Tat, ist kein ernstzunehmender Glaube.
Im Evangelium nach Matthäus wird das (25,31-46)  deutlich gesagt (und weil’s so schön ist, sei es in voller Länge zitiert: Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken. Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen? Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben.
Von wegen also, der „Glaube allein“ genüge! Vom Glauben ist hier gar nicht die Rede, jedenfalls nicht vom theoretischen. Wer Gutes tut — und das meint: für andere da ist —, der glaubt, auch wenn er vielleicht nicht weiß, dass er glaubt: Sein Glaube ist Praxis.
Das Gegenstück zu Mt 25,31-46 findet sich in Mt 7, 21: Nicht jeder der zu mir sagt: Herr, Herr! wird eingehen in das Königreich des Himmels, sondern wer den Willen meines Vaters in den Himmeln tut. Dies geht zusammen mit Lk 13,25 wohl auf die sogenannte Logienquelle zurück, für die man rekonstruiert hat: Was nennt ihr mich: Herr, Herr!, und tut nicht was ich sage? (Q 6,46). Der frühchristliche 2. Clemensbrief bringt die Fassung: Nicht jeder, der zu mir „Herr, Herr“ sagt, wird gerettet werden, sondern wer das Gerechte tut.
Kurzum, das „Religiöse“ im Sinne dieser oder jener Folklore und dieses oder jenes Fürwahrhaltens ist völlig untergeordnet (mitunter sogar entgegengesetzt) dem Tun dessen, was Gott will. Und was das ist, was Gott will, darüber besteht kein Zweifel: Das Beste für jeden Einzelnen. Die detaillierten Kriterien dafür mögen in dieser oder jener Situation problematisch scheinen und werden diskutiert werden müssen. Im Prinzip aber ist alles einfach und klar: Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten. (Mt 7,12) Diese so genannte Goldene Regel setzt keinerlei religiöse Doktrin voraus. Im Unterschied zum deutschen Sprichwort „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“, ist sie positiv formuliert. Und im Unterschied zu Kants kategorischem Imperativ („Handle, wie du sollst“) ist sie unkompliziert, unprätentiös und unmittelbar einsichtig. Keine Ethik kann ihr widersprechen oder wesentlich über sie hinausgehen. Mit ihr kommt man durchs ganze Leben. Und, wenn das Evangelium wahr ist, noch weiter.

Fremdenfeindlich aus Tradition

Die in Österreich sehr bekannte Journalistin Susanne Scholl hat dem „Extra“ der „Wiener Zeitung“ ein Interview gegeben (geführt von Habelsreiter und Stummerer, veröffentlicht am 9. April 2011). Darin kommt sie auch auf Fremdenfeindlichkeit in Österreich zu sprechen und sagt: „Unsere Kultur ist sehr rückwärtsgewandt. Wir bauen unsere Identität auf Traditionen auf. Da sind neue Einflüsse schwer zu akzeptieren.“
Das stimmt so nicht ganz. Gewiss hat Österreich, noch aus den Zeiten der Monarchie, eine alte Tradition der Fremdenfeindlichkeit. Aber diese „Tradition“ ist vor allem eine der Traditionslosigkeit, ja der Traditionsvernichtung. Das eigentliche Österreich — wozu ich die gebirgigen, von grunzenden Skilehrern und anderen Deppen bewohnten Gegenden nicht zu zählen geneigt bin — ist seit Jahrhunderten geprägt von Einwanderen aus Osteuropa und Südosteuropa. Die von der Sprache und Kultur ihrer Herkunft oft nichts behalten durften als den (mitunter auch noch amtlich verballhornten) Namen.
Darauf geht ja gerade die Pointe des zurecht berühmten Plakates zurück, auf dem ein kleiner Junge in Lederhosen zu einem als Gastarbeiter erkennbaren Mann sagt: „I haaß Kolaric, du haaßt Kolaric. Warum sogns zu dir Tschusch?“ Schon nach ein zwei Generationen pflegt man in Österreich die Familienherkunft zu vergessen und sich „österreichisch“ zu fühlen — was erst seit 1945 auch bedeutet nicht „deitsch“.
Tradition? Leider ja. Unter den zurecht berüchtigten Wiener Bürgermeister Lueger mussten Tschechen bei der Einbürgerung schwören, die tschechische Sprache fortan nicht mehr zu gebrauchen. Man spricht viel von Luegers Antisemitismus, dass sein Antislawismus weit wirkungsmächtiger war, übersieht man leicht.
Gelernte Österreicher pflegen von „Ausländern“ (jedenfalls, sofern sie nicht zahlende Gäste sind, also Touristen, die bald wieder gehen) zu fordern, sie sollen gefälligst „Deitsch“ sprechen. Warum eigentlich? Gewiss, die verfassungsmäßige Amtssprache ist Deutsch. Aber gibt es nicht auch die anerkannten Minderheiten und ihre Sprachen? Und wäre es nicht längst an der Zeit, nebst Ungarisch, Slowenisch, Burgendlandkroatisch, Tschechisch, Slowakisch und Romani (sowie Gebärdensprache) auch Türkisch und Serbisch als amtlich zulässige Sprachen real existierender „ethnischer“ Minderheiten anzuerkennen? Was spricht dagegen?
Es ist eine Jahrzehnte alte österreichische Tradition, sich der Aufstellung zweisprachiger Ortstafeln zu widersetzen. Wäre es nicht an der Zeit, in manchen Gegenden Wiens zweisprachige Verkehrsflächenbezeichungen anzubringen? Etwa auf Deutsch und Chinesisch rund um den Naschmarkt …?
Man sollte es sich jedenfalls nicht so einfach machen wie Frau Scholl, die es sich so vorstellt: „Politiker und andere Eliten fürchten sich davor, ihre Macht, ihren Einfluss oder Teiles ihres Besitzes zu verlieren. Darum reden sie ihre eigenen Ängste den normalen Leuten ein. Die Österreicher sind gar nicht so fremdenfeindlich, aber die Politik hat beschlossen, dass wir es zu sein haben. Darum gibt es ein neues Fremdenrecht, das noch schlimmer ist als alles zuvor.“
Gewiss, Österreichs Fremdenrecht ist schlimm, sehr schlimm. Und ebenfalls gewiss ist, dass Politiker Ängste schüren. Aber bei aller Dummheit, die auch ich ihnen unterstelle, so schlau sind die Stimmungs- und Meinungsmacher dann doch, dass sie nur auf solche Ängste und Ressentiments setzen, die schon wirklich vorhanden sind. So ist es nämlich nicht, dass „die Österreicher“ eigentlich „die Ausländer“ ganz doll lieb haben und immer ganz furchtbar nett zu ihnen sein möchten, aber von den bösen und unnormalen Politikern daran gehindert würden.
Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus sind urösterreichische Traditionen. Und wie die Geschichte zeigt, sind sie durch Aufklärung nicht zu beseitigen. Ich als nichtintegrationswilliger Inländer setze da eher auf demographischen Wandel. Ein balkanisiertes, turkisiertes, maghribinisiertes, asiatisiertes und afrikanisiertes Österreich wird andere Probleme haben. (Und die grunzenden Skilehreroiden bekommen vielleicht ein gebirgiges Reservat.)

Donnerstag, 7. April 2011

Es geht nicht um Gandhi

In Indien gibt es, wie mancherorts zu lesen ist, eine große Erregung über die von Joseph Lelyveld verfasste Biographie Mohamas Karamchand („Mahatma“) Gandhis. Obwohl die meisten der Erregten das Buch gar nicht gelesen haben dürften, verwerfen sie es und wollen es verboten sehen. Warum? Lelyveld habe darin Gandhi als bisexuell und rassistisch dargestellt. Der Autor bestreitet das entschieden.
Auch ich habe Lelyvelds Buch nicht gelesen, und Gandhi ist mir ebenso gleichgültig wie die Beantwortung der Frage, ob er bisexuell oder rassistisch war. Was mich empört, ist erstens, dass „Bisexualität“ und „Rassismus“ von den selbsternannten Verteidigern von Gandhis gutem Ruf als ähnlich geartete Invektiven behandelt werden, so als sei es gleichermaßen verwerflich, Sex mit Männern und Frauen zu haben wie Menschen auf Grund ihrer Abstammung als minderwertig zu behandeln.
Zweitens finde ich es ungeheuerlich, dass die Behauptung (sie mag zutreffend oder unzutreffend sein), jemand sei nicht ausschließlich heterosexuell gewesen, überhaupt als Vorwurf, als etwas das Ansehen der Person Minderndes verstanden wird.
Lelyveld bestreitet, wie gesagt, Gandhi als bisexuell (und rassistisch) dargestellt zu haben. Und wenn er es hätte? Anscheinend ist der sich gegen seiner Meinung nach falsche Vorwürfe verteidigende Biograph selbst der Meinung, es wäre etwas Schlechtes, wenn er getan hätte, was ihm unterstellt wird.
Was, mit Verlaub, wäre so schlimm daran, wenn Gandhi Sex mit Männern oder wenigstens einem Mann gehabt hätte? Wenn er Männer oder zumindest einen Mann begehrt hätte? Nicht diese oder jene Tatsachenbehauptung ist der Skandal, sondern die Reaktionen darauf. Dass offensichtlich viele in Indien die Vorstellung nicht ertragen können, ihr Nationalheld sei nicht bloß heterosexuell gewesen, ist ungeheuerlich. Darüber sollte man diskutieren. Nicht Gandhi oder Lelyveld und sein Text sollten das Thema sein, sondern die menschenverachtende Homosexualitätsfeindlichkeit gewisser Meinungsmacher in Indien.

Sonntag, 3. April 2011

Man sah erst schwarz, dann rot

Ich sagte es schon oft und sage es gerne wieder: Der Deutsche als solcher — den es selbstverständlich gar nicht gibt und der, wenn es ihn doch geben sollte, nicht nur in Deutschland vorkommt —, der Deutsche als solcher also hat als hervorstechendsten Charakterzug die Lust, Vorschriften zu machen, Vorschriften zu kennen und andere zur Einhaltung von Vorschriften anzuhalten. (Die berüchtigte deutsche Gründlichkeit und Ordentlichkeit, deren man in Deutschland allerdings in Wahrheit nur selten ansichtig wird, ist übrigens, wo sie ausnahmsweise doch mal vorkommt, nur ein Nebenprodukt dieser Vorschriftenmacherei und Vorschrifteneinhalterei.) Nicht zuletzt liegen dem Deutschen Vorschriften am Herzen, die Sprache und die politische Einstellung betreffen. Wenn er es „politische Korrektheit“ nennt, ist er zwar dagegen, aber  so nennt er es nur bei anderen, er selbst verhält sich einfach regelkonform und erwartet das auch von anderen. 
Was denkt also solch ein mit allen einschlägigen Vorschriften gewappneter Durchschnittsdeutscher beispielsweise, wenn er irgendwo einen „Neger“ sieht? Er denkt: Neger darf ich nicht sagen, ich sage lieber Schwarzer oder, um’s deutlicher zu machen, Schwarzafrikaner, denn irgendwie muss man die Hautfarbe ja kennzeichnen dürfen,  gerade weil sie ohne Bedeutung ist, alle Menschen sind gleich, auf die Farbe der Haut kommt’s nicht an, also doch lieber bloß Afrikaner sagen und die Erwähnung Farbe weglassen, keinesfalls irgendwie darauf anspielen, das wäre ja rassistisch, und rassistisch will ich nicht sein. Jetzt muss ich nur noch aufpassen, dass auch niemand anderer rassistisch ist.
Und nun stellen wir uns vor, so ein Durschnittsdeutscher (der, wie ich zu unterstellen wage, vorzugsweise eine Durschnittsdeutsche ist) kommt zum Bäcker und sieht dort ein für Schokoladenkuchen, genauer: eine Schoko-Vanille-Sahne-Schnitte namens „Schoko-Traum“ werbendes Plakat, auf dem ein fast nacktes Negerkind, äh, ein ein sehr dunkelhäutiges Kleinkind, dessen Hautfarbe keine Rolle spielt, zu sehen ist. Rassismus pur, denkt die antirassistische Durchschnittsdeutsche, empört sich lautstark und randaliert.
All das hat es, wie berichtet wird, tatsächlich gegeben. Die Bäckerei (mit Filialen in drei ostdeutschen Bundesländern, insgesamt 100 in ganz Deutschland) und die Werbung (auch im Internet), die antirassistische Empörung (ausgerechnet in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt), das Anpöbeln von Bäckereiwarenfachverkäuferinnen und das Zerstören der Plakate. Und nun kommt die Pointe: Das abgebildete Kind war nicht irgendein Kind, sondern das Kind einer Mitarbeiterin. Die Bäckereikette pflegt, wie man hört, immer wieder die Bilder von Kindern von Mitarbeiterinnen zu Werbezwecken einzusetzen, mit dem Einverständnis der Eltern, versteht sich. Diesmal nun, in der Aktionswoche für „Schoko-Traum“, war die Tochter einer Frau mit namibischem Migrationshintergrund zu sehen. Gewiss kein Zufall, denn die Kleine ist nun einmal süß und dunkelbraun, und der angepriesene Kuchen wohl auch. Von Rassismus also keine Spur.
Es sei denn, man nähme an, dass für Schokoladenkuchen auf keinen Fall mit einem schokoladenbraunen Mädchen geworben werden dürfte. Aber warum nicht? Darf auch für rosaroten Marzipankuchen nicht mit einem schweinchenfarbenen Kind geworben werden? Ist man nur dann nicht rassistisch, wenn man so tut, als gäbe es keine unterschiedlichen Körpermerkmale? Ist nicht erst die Abwertung auf Grund von „Hautfarbe“ rassistisch, sondern bereits jede Anspielung auf Pigmentierung?
Tatsächlich war nicht die werbende Bäckereikette rassistisch (die, wie man hört, in Namibia etwa 50 Mitarbeiter hat und dort auch Schulen und Entwicklungsprojekte unterstützt), sondern rassistisch waren die Empörer, die nämlich ihren eigenen, vorschriftsmäßig unterdrückten Rassismus auf das Plakat projizierten. Gewiss, über Reklame kann man oft so oder so denken, auch in diesem Fall. Aber man sollte keine Einstellungen unterstellen, die man nur unterstellen kann, weil man sie, wenn auch in der Gestalt der Negation, teilt. Ist es nicht eine besonders perfide Art von Rassismus, Menschen bei jeder sich bietenden Gelegenheit nur noch als Rassismusopfer wahrzunehmen? — Das kleine Mädchen heißt übrigens Sofihya. Was es vom „Schoko-Traum“ hält, wurde nicht berichtet.

Laetare

Wenn also der Tod — nicht so sehr der eigene, als vielmehr der des geliebten Anderen — alles zu entwerten, alles in einen Abgrund der Sinnlosigkeit zu reißen droht; und wenn andererseits gerade aus der existenziell erfahrenen Nichthinnehmbarkeit des endgültigen Nichts die Notwendigkeit eines den Tod überwindenden und Leben garantierenden Erbarmens folgt — das freilich nicht zwingend bewiesen, sondern nur gehofft und geglaubt werden kann: Was heißt das dann für die eigene Lebensführung?
Zum einen können die irdischen Freuden und Leiden nicht ganz ernst genommen werden. Nicht, dass nicht wirklich gelitten und genossen, erfreut und betrauert werden könnte, aber Trauer und Freude, Genuss und Leid haben nicht das letzte Wort. Glaube und Hoffnung gegen darüber hinaus und haben Wesentlicheres zu sagen.
Zum anderen können im Gegenteil Freud und Leid, Trauern und Genießen, gerade weil sie unter dem Vorbehalt ihrer Endlichkeit und Nichtendgültigkeit stehen, ganz und gar ernst genommen, ganz und gar angenommen, ganz und gar erlebt werden, denn wer glaubt und hofft, das mit dem Kontigenten nicht alles vorbei ist, kann Freude und Genuss als Vorfreude und Vorgenuss erfahren, auf das, was vielleicht noch kommt.
Und all das Leid, das eigene und das fremde? Mir hat da immer eine Notiz Franz Kafkas zu denken gegeben: „Nur hier ist Leiden Leiden. Nicht so, als ob die, welche hier leiden, anderswo wegen dieses Leidens erhöht werden sollen, sondern so, dass das, was in dieser Welt leiden heißt, in einer andern Welt, unverändert und nur befreit von seinem Gegensatz, Seligkeit ist.“
Ich verstehe das so: In dieser Welt besteht ein notwendiger Gegensatz zwischen dem, was sein soll, und dem, was nicht sein soll. Leiden ist Erfahren dieses Gegensatzes. Wie sollte man denn auch nicht unter Unrecht, unter Missgeschick, unter Mangel leiden? Niemand soll hungern oder krank sein, niemand soll bestohlen, betrogen und belogen werden, niemand soll entwürdigt, entrechtet, verfolgt, gequält, verletzt, getötet werden, niemand soll von Bildung und Unterhaltung ausgeschlossen werden — aber all das passiert und zwar, im Wesentlichen deshalb, weil Menschen es Menschen antun. Wie aber sollte man nicht darunter leiden, wenn es einem widerfährt? Widerfährt einem aber nicht das, was nicht sein soll, sondern das, was sein soll und wie es sein soll, dann ist das — vom „Gegensatz befreit“ — letztlich Seligkeit.
Streng genommen ist also nicht das Leiden das Üble, das nicht sein soll, sondern das, woran gelitten wird, soll nicht sein. Schlechtes soll nicht sein; was nicht sein soll, aber erfahren wird, ist schlecht. Leiden als Erfahrung dessen, was nicht sein soll, ist das Gegenstück zur Freude, die die Erfahrung dessen ist, was sein soll. Ja, für den, der an das Gute, Wahre und Schöne glaubt und seine Unvergänglichkeit erhofft, ist Leiden eigentlich Freude, nur eben noch nicht befreit vom Gegensatz, sondern in diesen eingespannt und ihm verfallen. Leiden ist Leiden am falschen Endlichen. Freude ist Freude am ins Unendliche reichenden Endlichen. Denn was je sein sollte, wird immer gewesen sein. Und was nie sein sollte, wird nie gewesen sein.