Sonntag, 10. April 2011

Judica

Dass man sich und alle anderen in letzte Instanz der Barmherizgkeit Gottes anheimstellen muss, ist keine Einladung zu ethischer Indifferenz oder selbstgenügsamem Quietismus. Man mag zurecht das Konzept von Lohn und Strafe als allzu geschäftsmäßig in Frage stellen und darauf verweisen, dass kein menschliches Verdienst die ewige Seligkeit gleichsam erkaufen kann. Gleichwohl ist der urprotestantische Aberglaube vom „Glauben allein“, der die verächtliche Verwerfung der Heilsnotwendigkeit guter Werke bedingt, eine völlige Pervertierung des Evangeliums. Denn worin besteht ein solches Geglaube, das ohne praktische Dimension auskommen zu können vermeint? Doch bloß in einem letztlich selbstgefälligen Fürwahrhalten. „Glaube“, der nur irgend ein Vermeinen ist und nicht Vollzug, im Zweifelsfall also Tat, ist kein ernstzunehmender Glaube.
Im Evangelium nach Matthäus wird das (25,31-46)  deutlich gesagt (und weil’s so schön ist, sei es in voller Länge zitiert: Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken. Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen? Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben.
Von wegen also, der „Glaube allein“ genüge! Vom Glauben ist hier gar nicht die Rede, jedenfalls nicht vom theoretischen. Wer Gutes tut — und das meint: für andere da ist —, der glaubt, auch wenn er vielleicht nicht weiß, dass er glaubt: Sein Glaube ist Praxis.
Das Gegenstück zu Mt 25,31-46 findet sich in Mt 7, 21: Nicht jeder der zu mir sagt: Herr, Herr! wird eingehen in das Königreich des Himmels, sondern wer den Willen meines Vaters in den Himmeln tut. Dies geht zusammen mit Lk 13,25 wohl auf die sogenannte Logienquelle zurück, für die man rekonstruiert hat: Was nennt ihr mich: Herr, Herr!, und tut nicht was ich sage? (Q 6,46). Der frühchristliche 2. Clemensbrief bringt die Fassung: Nicht jeder, der zu mir „Herr, Herr“ sagt, wird gerettet werden, sondern wer das Gerechte tut.
Kurzum, das „Religiöse“ im Sinne dieser oder jener Folklore und dieses oder jenes Fürwahrhaltens ist völlig untergeordnet (mitunter sogar entgegengesetzt) dem Tun dessen, was Gott will. Und was das ist, was Gott will, darüber besteht kein Zweifel: Das Beste für jeden Einzelnen. Die detaillierten Kriterien dafür mögen in dieser oder jener Situation problematisch scheinen und werden diskutiert werden müssen. Im Prinzip aber ist alles einfach und klar: Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten. (Mt 7,12) Diese so genannte Goldene Regel setzt keinerlei religiöse Doktrin voraus. Im Unterschied zum deutschen Sprichwort „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“, ist sie positiv formuliert. Und im Unterschied zu Kants kategorischem Imperativ („Handle, wie du sollst“) ist sie unkompliziert, unprätentiös und unmittelbar einsichtig. Keine Ethik kann ihr widersprechen oder wesentlich über sie hinausgehen. Mit ihr kommt man durchs ganze Leben. Und, wenn das Evangelium wahr ist, noch weiter.

1 Kommentar:

  1. Das Niveau dieses Beitrag würde manchem Geistlichen zur Ehre gereichen. Gleichwohl sei die Anmerkung gestattet, daß in lutherischer Sicht der Zusammenhang von Glaube und Werken doch etwas differenzierter gesehen werden muß.

    Auch für den lutherischen Christen kommt der der Glaube durchaus nicht ohne die "praktische Dimension" aus:

    So schreibt Luther in der Vorrede zum Römerbrief (1522): Glaube ist eine lebendige, unerschütterliche Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiß, daß er tausendmal drüber stürbe. Und solche Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade macht fröhlich, beharrlich und angenehm vor Gott und allen Kreaturen, was der Heilige Geist im Glauben bewirkt. Daher wird er ohne Zwang willig und bereit, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu dienen, alles zu leiden, Gott zu Liebe und Lob, der ihm solche Gnade erzeigt hat, so daß es unmöglich ist, die Werke vom Glauben zu scheiden, ebenso unmöglich, wie Brennen und Leuchten vom Feuer geschieden werden kann.

    In den Schmalkaldischen Artikeln (1537), die zum Bekenntnisstand der lutherischen Kirche gehören, heißt es:
    "Und auf solchen Glauben, Erneuerung und Vergebung der Sünde folgen dann gute Werke. Und was an diesen auch noch sündlich oder mangelhaft ist, soll nicht für Sünde oder Mangel gerechnet werden, um eben dieses Christus willen."

    "Wir sagen auch weiter, daß, wo gute Werke nicht folgen, der Glaube falsch ist und nicht recht."

    In Thesen für fünf Promotionsdisputationen vermerkt Luther:
    "34. Wir bekennen, daß gute Werke auf den Glauben folgen müssen, ja, nicht nur folgen müssen, sondern aus freien Stücken folgen; wie ein guter Baum nicht gute Früchte tragen muß (Matthäus 7, 18), sondern er trägt sie von allein.
    35. Und wie gute Früchte nicht einen guten Baum machen, so machen gute Werke den Menschen nicht gerecht,
    36. sondern gute Werke vollbringt der, der schon vorher durch den Glauben gerecht war, gleichwie gute Früchte von einem Baum kommen, der schon vorher seiner Natur nach gut war."

    Ein letztes Luther-Zitat:
    "Gute Werke sind des Glaubens Siegel und Probe; denn gleich wie die Briefe ein Siegel haben müssen, so muß der Glaube gute Werke haben."

    Sehr schön stellt Paul Althaus in seinem Standardwerk "Die Theologie Martin Luthers" den Zusammenhang von Fides und Fructus dar:

    "Die erfahrene Rechtfertigung, die Gewißheit des Heils führt dann ... mit innerer Notwendigkeit zum "Werke", zu neuem Gehorsam, zum frohen Dienst Gottes an den Menschen. Das Werk wird aus dem Glauben geboren. Indessen darin erschöpft sich ihr Zusammenhang nicht. Der neue Gehorsam hängt vom Glauben ab. Aber umgekehrt hat der neue Gehorsam eben darum auch Bedeutung für den Glauben, nämlich als Kennzeichen dafür, daß er wirklich Glaube ist. Ist der Glaube der Realgrund für das Werk, so das Werk Erkenntnisgrund für den Glauben."
    (S.214)

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