Sonntag, 17. April 2011

Palmarum

Wenn aber nun also, wie an den vorangegangen Sonntagen argumentiert wurde, zum einen die Goldene Regel eine ausreichende Grundlegung der Ethik darstellt und zum anderen nicht das Fürwahrhalten von Glaubenssätzen, sondern der Vollzug eines (zumindest impliziten und unter Umständen gar nicht bewussten) bejahenden Gottesverhältnisses in tätiger Nächstenliebe genügt, um der ewigen Seligkeit für würdig befunden zu werden — wozu dann noch die verschiedenen Christentümer?
Tatsächlich hat Jesus Christus, auf den die Christentümer sich berufen, selbst kein e Konfession namens „Christentum“ begründet (und erst recht nicht, wie es modisches Vorurteil will, eine Art „Reformjudaismus“), sondern er hat das Evangelium vom kommenden Gottesreich verkündet, er hat Jünger zur Nachfolge aufgerufen und er ist, wie es heißt, gestorben und auferstanden. Und damit ist der entscheidende Punkt berührt, an dem Logos und Mythos einander kreuzen.
In der Liturgie gibt es die Frage nach dem mysterium fidei (dem Geheimnis des Glaubens), die so beantwortet wird. Mortem tuam annuntiamus, Domine, et tuam resurrectionem confitemur, donec venias. (In deutscher Fassung: Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.)
Hier sind wesentliche Glaubensaussagen verdichtet. Nach kirchlicher Lehre ist in Jesus Christus Gott erschienen, denn nur er, der ganz Gott und ganz Mensch ist, kann Gott und Mensch versöhnen, die durch die Sünde entzweit sind. Was aber wäre die schlimmste aller Sünden, das größte aller Verbrechen, wenn nicht der Mord an Gott selbst? Indem nun der Sohn Gottes sich von den Menschen hinrichten ließ, also den Tod, der ja nach christlicher Lehre nichts Natürliches, sondern Lohn der Sünde ist, auf sich nahm, so der zentrale christliche Mythos, kaufte er, der einzige Unschuldige, die wahren Schuldigen los („loskaufen“ ist bekanntlich die wörtliche Übersetzung von „erlösen“) und überwand den Tod, nicht nur für sich selbst, sondern ein für alle mal für alle. Darum wird von der Kirche die Taufe (also wörtlich das „Eintauchen“ im Sinne eines symbolischen Ertrinkenmachens) als Hinneinnahme in den Tod Christi und damit auch als Verheißung der Auferstehung vollzogen.
Überwindung des Todes bedeutet selbstverständlich nicht, dass niemand mehr stürbe, sondern dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Das letzte Wort überhaupt ist nach Überzeugung der Jünger Christi dasselbe wie das erste Wort, also das Wort Gottes — womit eben nicht irgendwelche von Menschen verfasste Schriftstücke gemeint sind, sondern der Sohn Gottes selbst, der auferstandene Menschensohn.
Dass dieser wiederkehren wird, ist unaufgebbarer Teil des christlichen Bekenntnisses. Die Welt ist nicht ewig, die Geschichte ist nicht endlos, sondern die alles Endliche strebt seinem Abschluss und seiner Vollendung im Unendlichen zu. Es gibt ein Ende der Zeiten: Aus zeitlicher Sicht wird es erst kommen, sub specie aeternitatis aber ist es „immer schon gewesen“.
Diese Wiederkehr des Auferstandenen — um die Lebenden und die Toten zu richten, wie es in den Glaubensbekenntnissen heißt — beendet den historischen Prozess und ist sozusagen der letzte Akt der Erlösung, die mit der Menschwerdung begann, mit Tod und Auferstehung ihren Höhepunkt hatte und mit der Himmelfahrt Christi eine Art Verzögerung einleitete, die dann ihr ersehntes Ende haben wird. Das ist es, was am Palmsonntag als Tag der Erinnerung an den Einzug Jesu Christi in Jerusalem gefeiert wird: Die Hoffnung auf die Wiederkehr des Erlösers und den Abschluss der Erlösung.
Ich habe diese Geschichte als Mythos bezeichnet, keineswegs, um sie abzuwerten (zumal für mich ist das Mythische nicht minderwertig ist), sondern um anzudeuten, dass es eine Erzählung ist, die erst im Glauben zur Wahrheit wird. Die Goldene Regel und ihre Folge, das richtige Tun, kann als vernünftig behauptet und von jedem Gutwilligen eingesehen werden, unabhängig von religiöser und sonstiger Einstellung. Die Behauptung von Tod, Auferstehung und Wiederkehr aber ist eben ein mysterium fidei, das sich nur dem erschließt, der es annimmt.
Dazu hatten alle vor Christus Lebenden keine Chance und auch die nicht, die aus anderen Gründen nie etwas von ihm gehört haben oder nur Unzureichendes oder die ein Christentum vorgelebt bekommen, das sie abstoßen muss. Soll man nun annehmen, alle diese seien vom Heil ausgeschlossen? Manche Theologen haben das behauptet. Doch wie bereits in der „Predigt“ zum 5. Fastensonntag erwähnt wurde, lehrt Jesus etwas anderes. Nimmt man dieses Evangelium ernst, kommt es nicht darauf an, dass der zu Erlösende  Christ ist (im Sinne einer Konfessionszugehörigkeit), sondern nur darauf, dass Christus der Erlöser ist. Die verwirklichende Annahme der Erlösung von Seiten des Einzelnen geschieht nicht als Erwerb einer Vereinsmitgliedschaft, sondern als Vollzug eines — wie gesagt möglicherweise unbewussten — Gottesverhältnisses, also des Bejahens des Guten. Wer demnach so lebt, dass er das tut, was er von anderen an Gutem erwartet, wer also unter anderem die Hungernden und Dürstenden, die Flüchtlinge und Obdachlosen, die Armen, Kranken und Gefangenen wie seine Brüder behandelt, der hat es richtig gemacht und muss kein Gericht fürchten, auch und gerade nicht das Jüngste. Und auch der, der weiß, dass er fehlbar ist und nicht immer alles richtig gemacht hat, muss sich nicht fürchten, sondern er kann sich vertrauensvoll der Barmherzigkeit des Ewigen überlassen. Na, dann kann der Richter und Erlöser ja kommen …

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