Dienstag, 31. Mai 2011

Vermischte Meldungen (1)

„Eine Studie hat ergeben …“ — so beginnen ja viele Lügengeschichten und Wissenschaftsmärchen. Diesmal geht es so weiter: „… dass ein glücklicher Gesichtsausdruck Frauen attraktiv macht, während Männer eher attraktiv gefunden werden, wenn sie stolz dreinblicken.“ Wirklich großartig, was die Wissenschaft alles so herausfindet, nicht wahr, auf derlei wäre man als Laie ja nie im Leben gekommen.
Allerdings kann man an dem, was Jessica L. Tracy und Alec T. Beall an „Erkenntnissen“ publiziert haben (in der Zeitschrift „Emotion“, Mai 2011) doch einige Zweifel anmelden. Zunächst haben sie wohl nicht wirklich untersucht, welche Gesichtsausdrücke oder Körperhaltungen von Männern und Frauen auf Männer und Frauen wie wirken, sondern sie haben lediglich eine Statistik darüber angelegt, welche Angaben Probanden und Probandinnen zu Fotos von Frauen bzw. Männern machen, die (nach Meinung der Experimentatoren) glücklich, stolz, beschämt oder neutral wirken. Was nun aber, wenn im wirklichen Leben derselbe Stimmungsausdruck bei verschiedenen Personen unterschiedlich bewertet würde? Oder wenn verschiedene Ausdrücke bei derselben Person für gleich attraktiv gehalten werden?
Unter www.ubc-emotionlab.ca/emotionattraction kann man anscheinend die verwendeten Bilder begutachten. Die Zuordnung ist ziemlich simpel gestrickt: Ein Lächeln gilt als Zeichen von „happiness“, ein gesenkter Kopf als Indiz für „shame“. Aber ist es wirklich so einfach? Erstens lassen sich Gemütsausdrücke doch wohl schwerlich auf bloß „happy“, „neutral“, „pride“ und „shame“ reduzieren. Zweitens gibt es doch wohl Übergänge und Differenzierungen, etwa eine gewisse Traurigkeit im Lächeln, ein gewisser Trotz in der Trauer oder ein bisschen Selbstzweifel im Trotz. Und drittens könnte es doch sein, dass jemand unabhängig vom jeweiligen Gesichtsausdruck attraktiv oder unattraktiv ist, oder?
Der verheerendste Fehler von Tracy und Beall, der ihre „Erkenntnisse“ im Grunde wertlos macht, besteht jedoch darin, dass sie „sexuelle Attraktivität“ anscheinend nur als heterosexuelle Attraktivität begreifen. Denn sie zeigten Frauen nur Männerbildchen und Männern nur Frauenbildchen. Damit ist aber das Ergebnis der Experimente in der Versuchsanordnung schon vorweggenommen. Heterosexuelle Männer und heterosexuelle Frauen sind ja offensichtlich bereits geprägt von sehr bestimmten Vorstellungen davon, was sie attraktiv zu finden haben und was nicht. Untersucht wurde also weniger, was attraktiv gefunden wird, sondern welche Normen des Attraktivfindens eingehalten werden.
Dieser Unterschied ist ganz entscheidend für die Interpretation der Ergebnisse. Im abstract heißt es: Effects were largely consistent with evolutionary and socio-cultural-norm accounts. Dass eine Übereinstimmung mit soziokulturellen Normen herausgefunden wurde, ist offensichtlich und auch nicht anders zu erwarten, wurden diese Normen doch bereits in der Versuchsanordnung zu Grunde gelegt. Wie zum Henker aber kommen Tracy und Beall auf die Idee, sie hätten irgendetwas Relevante über „Evolution“ herausgefunden?
Ins selbe hohltönende Horn stößt freilich der deutsche Wissenschaftsjournalist Florian Rötzer (Telepolis, 26. Mai), der trompetet; „Sexuelle Attraktivität folgt nach einer Studie alt-evolutionären Schemata.“ Man muss sich schon sehr dumm stellen, um in der Versuchsanordnung von Frau Professor Tracy und ihrem Assistenten Beall irgendeine „evolutionäre Selektion“ am Werk sehen zu können. Ich erkenne darin nur eine Selbstbezüglichkeit des ideologisch verkorksten Wissenschaftsbetriebes und seiner eben solchen Propagandisten, also wieder einmal ein schönes Beispiel dafür, wie man sich und andere mittels „Wissenschaft“ dumm machen kann.
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Ist das nun bloß dumm oder ist es bösartig oder ist es beides? Diese Frage drängt sich mir auf, wenn ich Sätze lese wie diese: „Ich glaube, dass es eine echte Gefahr ist, wenn der Kreationismus, der Glaube, dass hinter allem die göttliche Schöpfung steckt, wieder Akzeptanz gewinnt. Man kann die Schritte der Aufklärung offensichtlich auch wieder zurückgehen.“ (Philipp Blom in einem von Paul Jandö geführten Interview. „Welt online“, 27. Mai 2011).
Zunächst einmal: Kreationismus und Schöpfungsglaube sind nicht dasselbe. Als Kreationismus bezeichnet man den Glauben, dass die Schöpfung genau so stattgefunden hat, wie es in bestimmten Schriften (Bibel oder Koran) beschrieben wird. Für die meisten Anhänger eines Schöpfungsglaubens — und keine Religion kommt wohl ohne Vorstellungen davon aus, wie die welt entstanden ist — besteht keinerlei Widersprich zwischen mythischer Darstellung und den Ausführungen der modernen Naturwissenschaften, da die jeweiligen Aussagen sich nur scheinbar auf denselben Gegenstand beziehen und jedenfalls von so unterschiedlicher Art und so unterschiedlichem Kontext sind, dass sie einander gar nicht widersprechen können. Zwischen Glauben und echter Aufklärung gibt es keinen Gegensatz, wohl aber einen zwischen Kreationismus und aufgeklärter Theologie — und zwischen Religion und dummem Geschwätz über Religion.
Ist nun Herrn Blom, der sich doch als Wissenschaftsjournalist bezeichnet, der Unterschied von Kreationismus und Schöpfungsglauben nicht bekannt? Versteht er ihn nicht? Ist er ihm egal? Setzt er sich über ihn aus Gründen der ideologischen Propaganda hinweg? Letzteres scheint der Fall zu sein, denn worin nun eigentlich die Gefahr besteht, wenn Menschen daran glauben, dass die Welt von Gott oder Göttern geschaffen wurde, verrät Blom nicht. Er deutet bloß an, dass derlei eben ein Rückfall hinter die „Aufklärung“ sei. Diese Gleichsetzung von Aufklärung mit Atheismus ist ungebildet und historisch falsch. Es mag schon sein, dass die von Blom bewunderten und von ihm selbst als „böse“ bezeichneten „Aufklärer“ Materialisten waren. Aber diese Art von „Aufklärung“ hatte auch nie etwas mit echter Aufklärung zu tun, sondern war ein reichlich mit Vorurteilen und Ressentiments bestückter Obskurantismus.

Sonntag, 29. Mai 2011

Die Eierfrüchter der Ösis

Bevor morgen früh Vertreter der österreichischen Lebensmittelaufsichtsbehörde in diversen Gemüseläden auftauchen, um im Auftrag der Generaldirektion für öffentliche Gesundheit einige Beschlagnahmungen vorzunehmen, und dann im Laufe des Tages in diversen Medien eine Aufzählung der betroffenen Gemüsesorten vorgenommen werden wird, hier noch rasch ein kleiner Hinweis an meine Landsleute: Nennt Gurken bitte Gurken oder Murken und Tomaten Tomaten oder, wenn’s denn sein muss, Paradeiser — aber redet bitte um Himmels willen nicht von „melanzani“!
Das solanum melonagena, auf Deutsch die Eierfrucht, im Französischen l’aubergine und im Englischen the egg-plant, heißt auf Italienisch la melanzana. Die Mehrzahl davon sind le melanzane. Von einer Mehrzahl kann man aber schlechterdings keine Mehrzahl mehr bilden, weshalb die bei Ösis so beliebte Form „melanzani“ also völliger Blödsinn ist. Italienischen Ohren wird das wohl so seltsam klingen wie „Eierfrüchter“. Muss ja nicht sein. Ein bisschen Sprachpflege schadet niemandem. Am wenigsten meinen Landsleuten. Also schön brav „die Melanzana“ und „die Melanzane“ sagen. Oder „O-ber-schie-ne“ (keinesfalls, wie oft zu hören, „Auberschiene“!). Oder halt zur Not „Eierfrucht“. Danke.

Lasst ihre Vorhaut dran!

Huch, was ist denn da los? George H. Niederauer, römisch-katholischer Erzbischof von San Francisco, äußert sich in einem Offenen Brief („The San Francisco Chronicle“, 23. Mai 2011) besorgt über eine Wählerinitiative, die ein Verbot der Beschneidung von männlichen Kindern verlangt. „Zwar ist dies eine Sache, die die Christen nicht unmittelbar betrifft. Doch als kirchlicher Verantwortungsträger kann ich die Vorstellung nur mit Sorge beobachten. Diese fehlgeleitete Initiative würde es Juden und Muslimen, welche ihre Religion praktizieren, verunmöglichen, in San Francisco zu leben“, so der Kirchenfürst.
Da verwechselt wohl jemand etwas. Wenn hier jemand fehlgeleitet ist, dann gewiss nicht die Wählerinitiative. Den sanfranziskanischen Aktivisten geht es, wie auch ähnlichen Initiative anderswo im Land, nicht um Religion. Es geht darum, dass es in den USA seit Jahrzehnten üblich ist, dass Eltern, und zwar völlig unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, mit behördlicher Duldung einen völlig überflüssigen Eingriff an ihrem männlichen Nachwuchs vornehmen lassen, die „circumcision“ (Beschneidung). Man schätzt, dass mindestens 80 Prozent aller in den USA lebenden Männer beschnitten sind. Die Gegner der willkürlichen Vorhautentfernung, meist selbst Beschnittene, wollen nun seit einiger Zeit diese massenhaft praktizierte Körperverletzung von Wehrlosen nicht weiter hinnehmen.
Sie haben völlig Recht. Körperliche Unversehrtheit ist ein Menschenrecht. Die für die Beschneidung (auf die, wie man gelegentlich hört, vor allem Mütter drängen — ein unbewusster Kastrationswunsch?) vorgebrachten „medizinischen“ Gründe sind unsinnig. Beschnitten zu sein ist nicht hygienischer als unbeschnitten zu sein.
Wer sich beschneiden lassen möchte, möge das tun dürfen. Es geht aber nicht an, Knaben irreversiblen Verstümmelungen auszusetzen, bloß weil die Eltern meinen, über die Körper ihrer Kinder verfügen zu dürfen.
Dass Kinder in den religiösen Vorstellungen ihrer „Erziehungsberechtigten“ erzogen werden, ist ebenso unvermeidlich wie auch für sich genommen nichts Schlechtes. Diese Erziehung sollte in Vorbild und Lehre bestehen, körperliche Misshandlung darf nicht dazugehören. In einer freien Gesellschaft kann dann jeder als Erwachsener mehr oder minder frei entscheiden, ob er weiterhin der Religion seiner Eltern anhängen möchten oder nicht. Will er aber kein Jude oder Moslem mehr sein, gibt ihm das seine Vorhaut nicht zurück.
Es ist schon sehr merkwürdig, dass auch Nichtjuden und Nichtmoslems in den USA so fanatische Zirkumzisionisten sind. Das künstliche Verkrüppeln von Füßen oder bizarre Halsverlängerungen würden schließlich auch nicht geduldet. Erst recht nicht Genitalverstümmelungen an Mädchen. Bei der Beschneidung jedoch verhält man sich irrationalerweise anders. Schließlich geht es ja auch „nur“ um Jungs. Mit denen kann man anscheinend machen, was man will …
Wäre mit einem Beschneidungsverbot die Religionsfreiheit in Gefahr? Keineswegs. Der religiöse Hintergrund von Beschneidung ist derselbe wie der diverser Speisegesetze. Es geht um Absonderung. Nun gut, wenn jemand sich aus religiösen Gründen von anderen, die als „Ungläubige“ und „Unreine“ betrachtet, absondern möchte, möge er das tun. Aber die Jungs bleiben gefälligst hier. Und ihre Vorhaut dran!

Samstag, 28. Mai 2011

Herrenmenschen, Gurkentruppe

Die Spanier sind schuld. Diese noch durch nichts bewiesene, im Gegenteil wohl sogar eher unwahrscheinliche Annahme kommt vielen entgegen: den deutschen Gemüsebauern, den deutschen Gemüsehändlern, den deutschen Gesundheitspolitikern und den deutschen Verbrauchern. In Deutschland glaubt man ja immer gern, dass andere schuld sind, am liebsten Ausländer. Deutsche hingegen machen ihrer Selbstwahrnehmung nach eigentlich immer alles richtig, außer selbstverständlich, sie machen etwas, das „typisch deutsch“ ist, das ist dann auch falsch.
Zwei Medienmeldungen trafen zuletzt auf einander. Erstens: Der Krankheitserreger Entero-Hämorraghisches Escherichium coli (EHEC), das für zahlreiche Erkrankungen vor allem im norddeutschen Raum und bereits mehrere Todesfälle verantwortlich gemacht wird, wurde auf aus Spanien importierten Salatgurken nachgewiesen. Zweitens: Ein spanischer Erzeuger und Exporteur von Gurken verweist auf eine ihm vorliegende E-Mail eines Großhändlers in Hamburg, wonach eine Palette mit 180 vollen Gurkenkisten vom Laster gekippt und zu Boden gefallen sei. (Wobei das Gemüse danach, so muss man sich hinzudenken, trotzdem ganz zwanglos weiterverkauft wurde.)
Diese doch recht plausible Darstellung aus Spanien lassen deutsche Medien selbstverständlich nicht gelten. Sie fahren sofort allerhand „Experten“ auf, die die spanische „These“ zurückweisen und für „sehr, sehr unwahrscheinlich“ erklären. Das kann ja auch gar nicht sein, dass nicht diese schmutzigen Ausländer schuld sind, sondern die Deutschen selbst. Dabei könnte einem doch schon der gesunde Menschenverstand sagen, dass es doch auch anderswo, nicht zuletzt in Spanien selbst, zu Erkrankungen hätte kommen müssen, wenn spanische Gurken, die doch nach ganz Europa exportiert werden, die alleinige Gefahrenquelle wären.
Die deutsche Unart, in überheblichster Manier bei anderen nach Fehlverhalten zu suchen, statt vor der eigenen Haustür zu kehren, passt so sehr zu den Klischees vom deutschen Nationalcharakter, dass man einmal mehr versucht ist, anzunehmen, es handle sich gar nicht um Klischees, sondern um unschöne Wahrheiten …
Jedenfalls ist das Gerede von spanischen Gurken so oder so ein Ablenkungsmanöver. Denn selbst wenn sich irgendwann herausstellen sollte, dass die Escherichia-coli-Bakterien ausschließlich in Spanien auf die Gurken oder auch auf anderes Gemüse gelangt sind, so ist doch etwas anderes, das die Erkrankungen und Todesfälle herbeigeführt hat.
Ach, wie peinlich ist es doch, dass in einem angeblich zivilisierten Land Gesundheitsbehörden und wissenschaftliche Institute die Bevölkerung erst dazu aufrufen müssen, Gemüse vor dem Verzehr und auch sich selbst die Hände zu waschen! Und das ausgerechnet in Deutschland, einem Land, das sich selbst so viel auf seine Sauberkeit und Ordnung zugute hält … (Nicht ganz zu Recht übrigens, wie jeder unvoreingenommene Besucher bemerken kann.)
Es gilt also: Hätten alle Leute die allereinfachsten Grundregeln der Hygiene beachtet, gäbe es, bakterielle Verunreinigung hin oder her, keine Erkrankungen und keines Todesfälle. Das ist nun aber der eigentliche Skandal, dass niemand darüber spricht, dass die Ursache nicht Bakterien, sondern der Umgang mit diesen ist. Dabei wäre das auch der Ansatzpunkt für eine Bekämpfung der derzeitigen EHEC-Hysterie, die den Medienmachern selbstredend gefällt, aber bei Erzeugern und Händlern von Gemüse, wie es heißt, zum Umsatzeinbußen führt: Man muss nur immer wieder darauf hinweisen, dass keine Gefahr besteht, wenn man sein Gemüse vor Zubereitung oder Verzehr gründlich wäscht und es auch an der eigenen Körperpflege nicht fehlen lässt. 

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Zusatz (28. Mai 2011) So macht man das. „Spiegel online“ knallt erst die Schlagzeile „Seuchengefahr: Spanien schließt zwei Großbetriebe“ hin — und gesteht im Text des Beitrages dann beiläufig ein, dass die spanischen Behörden in den Betrieben lediglich ein paar Proben entnommen haben. Von Schließung keine Rede. Es lebe die journalistische Redlichkeit!

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Zusatz (29. Mai 2011) Wenn es in Deutschland regnet, werden in Österreich die Regenschirme aufgespannt. Das Bundesministerium für Gesundheit hat jetzt die Bevölkerung aufgefordert, die allfällig bei 33 österreichischen Bio-Gemüse-Händlern, die ihre Ware bei  zwei deutschen Großhändlern bezogenen haben, eingekauften Gurken, Tomaten und Auberginen auf keinen Fall zu verzehren, sondern zu vernichten. An diesem hysterischen Akt ist mehreres interessant. Erstens handelt es sich bei den drei bisher bekannten Fällen von auf Grund einer EHEC-Infektion Erkrankten in Österreich um drei Deutsche. Dass es in Österreich selbst zu Infektionen gekommen sei, hat noch niemand behauptet. Zweitens sind die EHEC bisher meines Wissens nur auf spanischen Gurken nachgewiesen worden, nicht auf anderem Gemüse. Drittens ist ein Pauschalverdacht gegen spanisches Gemüse und deutsche Großhändler unsinnig. Ginge von diesen generell Gefahr aus, wäre Europa schon tot.

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Zusatz (30. Mai 2011) Neun der zehn derzeit bekannten Todesfälle auf Grund von EHEC-Infektionen und in der Folge Hämolytisch-urämischem Syndrom (HUS) sind Frauen. Was schließen wird daraus? Frauen essen deutlich öfter Rohkost als Männer. Und waschen sich seltener die Hände. Männern kommt es also wohl zu gute, dass sie weniger vom Gesundheits- und Schlankheitswahn befallen sind. Und dass für gewöhnlich sie die Drecksarbeit machen müssen, weshalb sie sich auch öfter die Hände waschen.

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Zusatz (31. Mai 2011) Ein Satz mit X: Das wahr wohl nix. Die bösen EHEC-Tierlein auf den berüchtigten vier spanischen Gurken sind defintiv nicht die Verursacher der ihnen bis heute in deutschen Medien gerne angelasteten Infektionen, Erkrankungen und Todesfälle, das gilt nun als wissenschaftlich erwiesen. Und, entschuldigt sich jetzt jemand bei den Spaniern? Fehlanzeige. Im Gegenteil, Bundesministerin Aigner glaubt wie immer, alles richtig gemacht zu haben, und Hamburgs Gesundheitssenatorin Prüfer-Storcks hat sogar die Chuzpe, verlauten zu lassen: „Also als spanische Agrarministerin würde ich schon jetzt der Frage nachgehen, wie kommen Ehec-Erreger auf spanische Gurken.“ Erstens, liebe Dame, mögen die Spanier manche Macken haben, aber so dämlich, so etwas wie Sie zur Gesundheitsministerin zu machen, sind sie ganz sicher nicht. Zweitens sollten die hanseatische Herrenmenschin und ihre Gesinnungsgenossinnen beiderlei Geschlechts mal ihre Überlegenheitsgefühl ablegen und sich klar machen, dass Norddeutschland ein Seuchenherd ist, der mittlerweile ganz Europa bedroht. Die Seuche kam nicht nach Deutschland, sie geht von Deutschland aus! An den spanischen EHEC ist keiner gestorben. Deutschland hingegen exportiert derzeit Todesfälle.* Und keiner macht was. Schließt die Grenzen! Wascht euch! Esst nur saubere Lebensmittel!
(*Auch wenn Wortspiele angesichts der bisher 15 Toten geschmacklos scheinen mögen, hier eine Celan-Paraphrase: Der Tod ist ein Exportweltmeister aus Deutschland.)

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Zusatz (Oktober 2011) Zweimal in der Woche kontrolliert (wie ich dem ARD-Text entnehme) mein Lieblingsfernsehkoch Vincent Klink die Hände seiner Angestellten in seinem Restaurant „Wielandshöhe“ in Stuttgart. Die Hände müssten sauber sein und die Fingernägel geschnitten, aus Gründen der Hygiene. „Das ist einfach logisch. Mein Vater war Tierarzt und gelernter Bakteriologe und hat mir das beigebracht. Dieses ganze EHEC hätte es nie gegeben, wenn alle die Fingernägel geschnitten hätten!“
Das macht Sinn, finde ich. Und es bestätigt eigentlich den Verdacht, dass die EHEC-Krise — wie ich mir bereits oben am 30. Mai anzudeuten erlaubt habe — in erster Linie Frauensache war. Nicht nur, weil Frauen mit ihrem Hang zum dauernden Eincremen der Hände den Kleinstlebewesen ideale Lebensumstände bereiten, sondern auch, weil es eher Frauen als Männer sind, die lange, womöglich noch „dekorierte“ Fingernägel tragen. Wer schön sein will, muss leiden, gewiss; und wenn sich Frauen in Folge ihres unsauberen Selbstbehübschungswahns die Seele aus dem Leib scheißen, ist das ihre Sache. Leider hat ihr Verhalten aber auch Wirkungen auf andere Menschen, und wie käme man als Restaurantgast dazu, am Salat zu krepieren, weil sich die Kaltmamsell nicht die Pfoten gewaschen oder Krankheitserreger mit ihren Kunststoffkrallen übertragen hat?

Sie möchten gerne Nutten sein

Das ästhetische Ideal der Mädchen und Frauen der westlichen Welt ist nun einmal die Straßenhure. Einmal mehr haben sich darum Tausende zu einem slutwalk zusammengetan, diesmal in Melbourne. Ein ähnlichen Aufmarsch gab es bereits in Toronto. Es werde damit gegen die sexuelle Belästigung aufreizend bekleideter (oder eben nicht bekleideter) Frauen demonstriert, heißt es. Nun ja. Wie man gegen sexuelle Belästigung mit ästhetischer Belästigung ankommen will, bleibt rätselhaft …
Jedenfalls haben vielen Frauen und Mädchen offensichtlich die westlichen Werte verinnerlicht und wenden sie auf ihr Äußeres an: Mach dich zur Ware und dann mach Reklame für dich. Aber bekanntlich gibt es Waren sehr selten umsonst. Nur weil man wie ein Flittchen aussieht, treibt man’s noch nicht mit jedem. Das Ideal der Hure ist es, unter den Freiern wählen zu können. (Die Bezahlung hat nicht immer bloß mit Geld zu tun.)
Das nicht-westliche, „orientalische“ Frauenbekleidungsprinzip funktioniert bekanntlich spiegelbildlich. Wird im Westen mehr als nötig gezeigt, so im Osten weniger als möglich. In beiden Fällen geht es darum, den Frauenkörper als möglichst begehrenswert zu inszenieren: Aufreizung durch Reizentzug oder Aufreizung durch Reizsteigerung.
Mich interessiert beides nicht. Ich zöge jedoch im Zweifelsfall Kleidungsstücke für Frauen wie die wunderbare Burka oder den herrlichen Tschador vor, weil sie mir Anblicke ersparen, die mich zwar reizen, aber nicht sexuell, sondern tendenziell zum Kotzen.
Die Nutten mögen also Nutten sein, wenn sie das wollen. Solange ich sie nicht ansehen (oder hören oder riechen) muss, ist es mir egal. Mir tun nur die männlichen Heterosexuellen ein bisschen leid, die auf solch primitive Inszenierungen hereinfallen.

Sonntag, 8. Mai 2011

Di fronte al un commentario di un amico

Lieber Josef, zunächst vielen Dank für Deinen Kommentar zu meiner Glosse zum Ereignis von Abbottabad. Ich wünschte, mehr meiner Leser ließen sich hin und wieder zu Kommentierungen anregen, zumal zu solch argumentativ reich bestückten wie Deinen. Allerdings ist es nun leider so, dass ich Deine Argumente (soweit ich sie überhaupt verstehe, was zum Teil nicht sehr weit ist) für nicht stichhaltig halte. Die „logischen Paradoxien“, die Du bei mir entdecken zu können meinst, kommen, wenn überhaupt, aus meiner Sicht nur dadurch zu Stande, dass Du Prämissen einschmuggelst, die nicht meine sind, und Konklusionen ziehst, die ich ganz und gar nicht nachvollziehen kann.
Eine Reihe von Nebenaspekten werde ich im Folgenden außer Acht lassen. Etwa das Thema „Terrorgefahr“ — von der ich nie behauptet habe, sie sei ausschließlich ein „Propagandamittel“, sondern an der ich ausdrücklich die Unterscheidung von „echter oder vermeintlicher“ vorgenommen habe. So ließe sich noch manch etwas forciert wirkende Fehldeutung zurechtrücken, aber das wäre ermüdend.
Beginnen möchte ich die Auseinandersetzung mit Deiner für mich zuweilen verwirrend unklaren Kritik bei der noch vergleichsweise einfachen These „Wenn die USA (oder Israel) Unrechtsstaaten sind, dann kann man sie auch nicht im Namen einer Ethik, die Rechtsstaatlichkeit fordert, dafür kritisieren, dass sie das nicht sind.“ Warum bitte sollte das nicht möglich sein? Das kann man nicht nur, das muss man sogar, wenn die Kritik sinnvolle Kriterien haben soll. Lassen wir für einen Moment einmal des Aspekt der Staatlichkeit beiseite und betrachten bloß die Frage der Kritik am Unrecht in Namen des Rechts. Wieso kann ich einen Lügner nicht im Namen der Ehrlichkeit kritisieren, wieso einen Dieb nicht in Namen der Achtung des Eigentums, wieso ein Mörder nicht in Namen des Rechtes auf Unverletztheit und Leben? Das erschließt sich mir nicht. Das Gegenteil ist doch offensichtlich wahr: Nur unter Berufung auf die Validität genau der Normen, die er missachtet, kann man jemandes Handeln kritisieren. Worauf sonst soll die Kritik Bezug nehmen?
Du schreibst: „Wenn die USA ein Unrechtsstaat sind und die westlichen Werte, die für dich ohnehin nicht existieren und auch keinerlei ethische Substanz beinhalten, eben diese nicht repräsentieren, dann ist ihre Verletzung der rechtsstaatlichen Ethik keine, sondern Teil ihrer inneren Verfasstheit, von der du behauptest, sie ohnehin durchschaut zu haben. So why bother? Mir ist nicht nachvollziehbar, auf welchem realpolitischen Boden eine solche Debatte geführt werden könnte. Hier bekämpfen sich zwei Verbrecher (mit ungleichen Mitteln, aber das kann niemand von uns beeinflussen) und sie schießen ihre Differenzen aus. Muss uns das kümmern?“
Da kommt einiges zusammen, dass der Reihe nach beantwortet muss, auch wenn Deine Darstellung es verknüpft und verknotet. Zunächst: Ich weiß gar nicht, was „ethische Substanz“ bedeuten soll und auch nicht, was es heißen soll, dass „Werte existieren“ oder nicht existieren. Mir stellt es sich so dar: Es werden „Werte“ behauptet, die in der Praxis kaum eine oder gar keine Rolle spielen, zumindest nicht, wenn sie der „realpolitischen“ Durchsetzung des Machtwillens im Wege stehen. (Nach meinem Sprachgebrauch sind „Werte“ nicht „real“ oder irreal, sondern sie werden behauptet oder nicht behauptet und die aus ihnen abzuleitenden Normen werden eingehalten oder nicht. Etwas kann gleichzeitig ganz „real“ als „Wert“ behauptet werden, obwohl man sich in der „realen“ Praxis nicht darum schert. Was die „Substanz“ von „Werten“ sein soll, ist mir ein Rätsel.)
Kann man das — die Missachtung behaupteter „Werte“ — nun im Ernst leugnen? Willst Du etwa wirklich behaupten, dass staatliche Handeln der USA (oder Israels) sei stets ohne jeden Fehl und Tadel und verletze nie die Prinzipen, auf die es sich beruft? So naiv sollte man sich nicht stellen, meine ich.
Wenn die „innere Verfasstheit“ der USA nicht in dem besteht, was ich Deiner Meinung nach durchschaut zu haben behaupte, worin denn eigentlich dann? Durschaust Du sie denn Deinerseits nicht oder siehst Du lediglich etwas anderes? Vielleicht hindern Dich ja Deine antilinken Scheuklappen an einem ungetrübten Blick. (Nur nebenbei: Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer oder was der „gesamte linke Politcluster“ sein soll, glaube aber nicht, das ich damit etwas zu tun habe. Du verhedderst Dich da in Deinen Ressentiments — der übliche abschüssige Weg vom Pro-Kommunismus zum Pro-Imperialismus, den schon so viele vor Dir gegangen sind … Aber das ist ein anders Thema. Ich bin jedenfalls noch nie eine unter „vielen anderen linken Stimmen“ gewesen, sondern habe immer nur in meinem eigenen Namen gesprochen, darum möchte ich bitte auch nur für das kritisiert werden, was ich tatsächlich geäußert habe, und nicht für das, was andere damit vielleicht oder vielleicht auch nicht gemeint hätten, wenn sie es so oder anders geäußert hätten.)
Worauf Deine Frage nach dem „realpolitischen Boden“ eigentlich zielt, ist mir völlig unklar. Soll das ein zynisches Abfinden mit den Verhältnissen ermöglichen? Und wieso überhaupt „Debatte“? Ich debattiere nicht, ich stelle fest. Man wird Mord ja wohl auch dann Mord nennen dürfen und Lüge Lüge, wenn das die Mörder und Lügner nicht beeindruckt. Ich bin nicht die Polizei und kein Tribunal. Ich äußere nur meine begründete Meinung. Und freie Meinungsäußerung soll ja, so hörte ich immer wieder, in demokratischen Systemen dazu beitragen können, Politik zu beeinflussen … (Man muss nicht glauben, in einer perfekten Demokratie zu leben, um Aspekte demokratischer Systeme gutheißen zu können.)
Du schreibst: „Rechtsstaatlichkeit, in der jemand anklagt und jemand verurteilt wird, muss auf einem Konsens basieren.“ Verstehe ich nicht. Wessen Konsens? Des Anklängers und Richters mit dem Angeklagten und Verurteilten? Macht das Sinn? Anklagen und verurteilen kann man immer, rechtsstaatlich ist es dann, wenn es auf Grund von geltendem Recht geschieht. Welches Recht gilt und gelten kann (inwiefern nämlich etwa Gesetze unwirksam, weil Grundrechte verletzend, sein können), ist unter Umständen strittig. Meinst Du das? Dann wäre unstrittige Gültigkeit der „Konsens“? Aber wer konsentiert denn da mit wem? Muss etwa der Angeklagte der Rechtsordnung zustimmen, nach der ihm der Prozess gemacht wird, damit dieser rechtsstaatlichen Prinzipien folgt? Das wäre mir neu. Ich habe noch nie gehört, dass das jemand fordert.
Um es ganz klar zu sagen: Rechtsstaatlichkeit besteht doch wohl vor allem darin, dass ein Staat sich in der Praxis an die Grundsätze hält, deren Gültigkeit er in seiner „Theorie“ (also seinem offiziellen Selbstverständnis) anerkennt. Die USA haben das meiner Meinung nach im Falle Bin Ladens nicht getan. Zwischen den Grundsätzen der Verfassung der Vereinigten Staaten einerseits und Obamas Mordbefehl andererseits besteht ein Widerspruch. Zu dieser Beurteilung kann ich übrigens kommen, ganz egal, welche Meinung Bin Laden zur Rechtsordnung der USA oder zu „westlichen Werten“ hatte.
„Die USA halten Bin Laden und seine Terroristenkumpane nicht für Subjekte auf rechtsstaatlichem (oder völkerrechtlichem) Terrain, sondern gehen davon aus, dass es hier gar kein Recht gibt. Du sagst genau dasselbe: die USA haben keinen Begriff von Rechtsstaatlichkeit, also warum sollen sie sich an etwas halten, was sie ohnehin durch bloße Existenz suspendiert haben.“ Den ersten Satz verstehe ich noch halbwegs, danach nichts mehr. Was soll das heißen, dass es (für wen?) im Verhältnis zum Terrorismus bzw. Terroristen „kein Recht“ gibt? (Nie im Leben habe ich „dasselbe“ behauptet.) Ist hier denn etwa nicht von Straftaten und Straftätern die Rede? Hat also Bin Laden oder wer auch immer hinter all dem (echten oder vermeintlichen) „Terrorismus“ steckt, gar nichts verbrochen? Warum wollte man ihn dann eigentlich, wie behauptet wurde, verhaften?
Was genau meint die Formulierung „Subjekte auf (…) Terrain“? Wenn das heißen soll, dass die USA versucht haben, „ungesetzliche Kombattanten“ aus den durch Grundrechten vor staatlicher Willkür Geschützten herauszudefinieren, so trifft es leider zu. Eine menschenverachtende Vorgangsweise, die Du doch nicht etwa billigst? Das Motto eines Rechtsstaates kann ja wohl nicht sein: „Wir halten uns an die Gesetze, außer wenn wir uns nicht daran halten.“ Oder: „Menschenrechte gelten für jeden außer für unsere Feinde.“
Du stellst im Übrigen, lieber Josef, meine Argumentation auch an diesem Punkt völlig falsch dar. Ich habe nie behauptet, die USA hätten „keinen Begriff von Rechtsstaatlichkeit“ und hätten „durch bloße Existenz“ irgendetwas „suspendiert“. (Was immer das heißt.) Ich meine vielmehr dies: Es werden Ansprüche erhoben, die in der Praxis an entscheidenden Stellen nicht erfüllt werden. Das ist aber kein Betriebsunfall, sondern gehört zum System. Das Erheben von derartigen Ansprüchen — die hin und wieder ja sogar erfüllt werden! — stellt ganz wesentlich auch eine Ablenkung davon dar, dass es in der Hauptsache um das Beanspruchte gar nicht geht. Und wieso, ich frage es nochmals, soll ich jemanden oder etwas nicht dafür kritisieren können, dass er oder es die Ansprüche, die er oder es erhebt, nicht erfüllt? Der Lügner hebt durch seine Lüge ja nicht die Wahrheit auf oder auch nur die Verpflichtung zur Ehrlichkeit, der Dieb beseitigt nicht das Privateigentum oder auch nur das Recht darauf und der Mörder nimmt zwar ein Leben, aber seinem Opfer nicht das Recht auf Leben und Unversehrheit, auch wenn es dieses Recht eklatant miss achtet hat.
Folgte man Deiner Argumentation, so dürfte ich — jetzt müssen mal wieder die Nazis ran — die Millionen von Morden im Rahmen der „Endlösung“ gar nicht als Unrecht betrachten, weil der Unrechtsstaat „Großdeutsches Reich“ ja durch seine „Existenz“ das Recht schon „suspendiert“ hätte. Selbstverständlich habe ich solchen Unsinn nie gesagt oder gedacht. Dass Unrecht von einem Staat systematisch betrieben wird, rechtfertigt es doch nicht! Ob die Nazis einen Begriff von Rechtsstaatlichkeit hatten oder nicht, spielt doch bei der Beurteilung des staatlichen (oder vom Staat bewirkten) Handelns des „Dritten Reiches“ keine Rolle! Mir ist völlig unverständlich, wie Du dazu kommst, mir eine solche absurde Position zuzuschreiben.
Plausibler ist, was nicht überrascht, die Gegenposition: „Würde man also die ethische Dimension eines politischen Mordes tatsächlich ernst nehmen, dann müsste die Schlussfolgerung lauten: die USA (und Israel, ich halte mich hier an die parenthetische Konvention deines Arguments) sind Rechtsstaaten, die diese Regeln verletzt haben. Die Verletzung dieser Regeln ist überhaupt ein Zeichen dafür, dass sie existieren und dass ihre Substanz keineswegs unscharf ist.“ Dem kann ich nun weitgehend zustimmen. (Auch wenn ich nicht weiß, was eine unscharfe Substanz sein soll.) Nichts anderes habe ich gesagt, wenn auch zugegebenermaßen nicht in diesen Worten. Zu Deiner Formulierung möchte ich nämlich unbedingt den entscheidenden Zusatz machen, dass ein Rechtsstaat, der wiederholt und systematisch seine eigenen rechtsstaatlichen Grundsätze missachtet, ja missachten muss, um seine favorisierte Politik durchzusetzen, besser „Unrechtsstaat“ genannt werden sollte.
Falls es Dich jetzt überrascht oder gar verwirrt, dass ich beide Aussagen „Die USA sind ein Rechtsstaat“ und „Die USA sind kein Rechtsstaat“ unter gewissen Bedingungen gleichermaßen akzeptiere, dann verweise ich auf den Unterschied zwischen einer polemischen Glosse und einem politikwissenschaftlichen oder rechtshistorischen Traktat. So oder so scheint mir zu gelten: Rechtsstaatlichkeit und staatliches Unrecht verhalten sich nicht wie A und Nicht-A zueinander. Ein Staat kann sehr wohl beides sein, Rechtsstaat und Unrechtsstaat. Mag sein, dass die Bezeichnung „Unrechtsstaat“ manchem überpointiert, wenn nicht gar verfehlt scheint, wer sich aber auf meinen Gedankengang einlässt, wird feststellen können, dass die provokante Vokabel nicht grundlos gesetzt wurde. (Ein, wie ich finde, erhellendes Beispiel für eine bizarre Konstellation, in der sich Rechtsstaatlichkeit und offenkundiges Unrecht kreuzen und amalgamieren, war die berüchtigte Lex Van der Lubbe. Die Nazis wollten den von ihnen für den Reichstagsbrand verantwortlich gemachten Marinus van der Lubbe einfach „liquidieren“, die Juristen bestanden auf einem geregelten Verfahren. Der Kompromiss: Man hielt sich an den Buchstaben eines schnell erlassenen Gesetzes, das den wichtigen Rechtgsgrundsatz nulla poene sine lege verletzte, und hängte van der Lubbe für eine Straftat, für die zum Zeitpunkt der Tatverübung noch gar nicht die Todesstrafe galt. — Nein, die USA sind nicht identisch mit dem Dritten Reich. Auch der Staat Israel nicht. Falls das jetzt wieder kommt.)
Jeder moderne Staat ist ein bisschen Rechtsstaat und ein bisschen Unrechtsstaat. Was überwiegt, ist von Fall zu Fall zu entscheiden. Es gibt jedoch Staaten, bei denen dauerhaft in entscheidenden Fällen das Unrecht überwiegt, ihren genau gegenteiligen Versicherungen und ihrer massiver Propaganda zum Trotz. Sofern nun solche Staaten sich zu Verteidigern des Rechts oder zur verfolgten Unschuld stilisieren, sollte man ihnen ihre Unrechtspraktiken mindestens so sehr vorhalten wie den üblichen Verdächtigen (Nordkorea, Iran, Sudan usw. usf.)
„Man kann die Liquidierung Bin Ladens nur dann als ein Problem sehen, wenn man akzeptiert, dass westliche Werte wie Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechte tatsächlich von genau diesen Staaten verkörpert werden, aber es keinen Souverän gibt, der sie so einfordern kann.“ Ich muss mich leider wiederholen: Ich verstehe das nicht. Vor allem das mit dem Souverän nicht. Für ein ordentliches Gerichtsverfahren bedarf es weder der ominösen „Werte“ noch des mysteriösen „Souveräns“. Es ist auch nichts spezifisch Westliches daran. Geordnete Verfahren in Rechtshändeln gibt es seit Menschengedenken, nämlich seit Menschen einander an Normen messen und zwischen willkürlicher und geregelter Sanktion von Normverletzungen unterscheiden und nur letztere billigen.
Aber nicht nur das ist am Abknallen („Liquidieren“ ist so eine stalinistische Vokabel, kommt mir vor) Bin Ladens problematisch, dass es Recht und Gesetz außer Acht lässt, sondern dass es ausgerechnet von dem Staat vollzogen wird, der immer wieder lauthals beansprucht, wie kein anderer für rule of law, also die Bindung der Ausübung der Staatsgewalt an die Gesetze und den Schutz vor willkürlicher Ausübung der Staatsgewalt zu stehen.
Dieser eben genannte Doppelgrundsatz (eine Art Minimaldefinition von Rechtsstaatlichkeit) ist im Kern weder ein, wie Du es nennst, „abstraktes Prinzip“, noch etwas Westliches. Mir ist nicht bekannt, dass es je irgendeine Kultur gegeben hätte, die völlig willkürliche Gewaltausübung für rechtens und an Normen gebundene für Unrecht gehalten hätte. (Wie diese Normen jeweils aussahen und wie es Machthabern trotz dieser Grundsätze gelang, ihre „Realpolitik“ durchzusetzen, ist ein anderes Thema.)
Aber anscheinend reden wir beim Thema „Rechtsstaat“ aneinander vorbei. Du schreibst: „Der Rechtsstaat ist die politische Sphäre, die abstrakte Prinzipien einklagbar macht, auf der Grundlage eines Konsenses der Gleichen. Der Souverän, der dies ordnen könnte muss unsichtbar bleiben, damit der Konsens überhaupt zustande kommt. Diesen (Welt-)Souverän forderten paradoxerweise Bin Laden und die islamistischen Ideologien“ usw. usf. Ich verstehe kein Wort. Was meinst Du damit? Wer für den Rechtstaat ist, ist für den Islamismus? Wer gegen den Islamismus sein will, muss den Rechtsstaat ablehnen? Ich kann nur vermuten, dass die Vokabeln „Konsens“ und „Souverän“ da auf einen Theorie-Hintergrund anspielen, den ich nicht erkenne und in Bezug auf den ich also auch nicht argumentieren kann. Vielleicht erklärst Du mir noch mal mit anderen Worten, worauf Du da hinauswillst.
Dieser Versuch hier ging jedenfalls schief, denn ich verstehe nur Bahnhof: „Man kann die Ermordung Bin Ladens nur dann ernsthaft als Ermordung betrachten, wenn man zu gesteht, dass die US-Truppen, die ihn beseitigt haben, auf dem Boden einer territorial begrenzten Ethik auf jene Räume zugreifen, die erst von ihr besetzt werden müssen.“ Wie begrenzt man eine Ethik territorial? Soll das heißen: In Pakistan (oder Guantanamo Bay) handeln wir nicht nach den Grundsätzen, auf die wir uns sonst berufen? Ich würde das einfach Doppelmoral oder Scheinheiligkeit nennen. Wieso man diese „zugestehen“ muss, um eine widerrechtliche Tötung eine widerrechtliche Tötung nennen zu können, erschließt sich mir nicht.
„Ob wie du schreibst ‘keine echte Kriegshandlung vorliegt’ (was genau die Anschläge und Massenmordambitionen der islamistischen Verbrecherbanden anderes sind, sollte man mir einmal erklären), dann kann dies nur vor einem Hintergrund debattiert werden, der die Staaten und Bevölkerungen des Westens als legitime Träger eines universalistischen Rechtssystems akzeptiert.“ Hier verunklart wohl auch die Syntax den Gedankengang („ob … dann …“).
Zunächst: Krieg kann selbstverständlich als beliebiges Etikett auf alles gepappt werden, was irgendwie mit Gewalt zu tun hat. Dann herrscht auch schon mal auf Schulhöfen Krieg. Nach internationalem Recht jedoch unterliegen Kriegshandlungen einem gewissen Regelwerk, zu dessen Einhaltung sich meines Wissens auch die USA verpflichtet haben. („Keine echte Kriegshandlung“ bezog sich in meinem Text erkennbar auf den Einsatz der Navy Seals; dass „Terrorismus“ per definitionem keine Kriegshandlung ist, werde ich hier nicht weiter erläutern.) Wie nun also? Befinden sich die USA mit Pakistan im Krieg? Mit al-Quaida? Bei Bedarf mit dem Rest der Welt? Man wird sich schon entscheiden müssen: War die Tötung in Abbottabad nun eine militärische Operation, ein Quasi-Polizeieinsatz oder eine „Liquidation“? Und dann: Wenn Abbottabad eines Nachts plötzlich (und vorübergehend?) zum rechtsfreien Raum wurde, woher nahmen die USA dabei eigentlich das Recht, das Recht dort und dann auszusetzen? Ist souverän, wer darüber verfügt, wo und wann geltendes Recht gilt und wo und wann nicht? Ist, wer souverän ist, immer im Recht? Was ist dann überhaupt noch „Recht“?
Weiters: Welcher Logik folgt der Gedanke, „die Staaten und Bevölkerungen des Westens“ müssten als „legitime Träger eines universalistischen Rechtssystems“ anerkannt werden? Entweder ist etwas westlich oder es ist universell. Beides geht nicht. Es sei denn, Universalismus hieße nichts anderes als Imperialismus, also: Durchsetzung eines Großmachtwillens mit Gewalt. Genaus das hatte ich ja aber geschrieben, dass der Westen in Wahrheit (nämlich in seiner wesentlichen Praxis, nicht in seinen hehren Ansprüchen) für „Gewalt“ und „Willkür“ steht und nicht für „Freiheit“ und „Demokratie“. (Man kann freilich, rhetorisch ist ja fast alles möglich, in orwellesker Manier „Freiheit“ mit „Gewaltherrschaft“ und „Demokratie“ mit „Willkürherrschaft“ gleichsetzen …)
Dass ausgerechnet Hochwürden Lamberti von Dir zum Kronzeugen westlicher Weltherrschaft gemacht wird, scheint mir absurd. Hätte ich ihn so verstanden, hätte ich ihn nicht zitiert. Mir scheint, man kann der Verantwortung vor Gott und den Menschen nur durch entschiedenen Antiimperialismus gerecht werden. Mord ist böse, Unterdrückung ist böse, Ausbeutung ist böse, Verdummung ist böse. Also ist die Politik der USA (und Israels) nicht gut …
Fazit: Die mir unterstellten „Paradoxien“ sind wohl nur Deine eigenen, lieber Josef. Du identifizierst „westliche Werte“ und „Universalität“ und hältst den Rechtsstaat offensichtlich für eine westliche Besonderheit. Ich halte die tatsächliche politische Praxis „des Westens“ im Wesentlichen für brutalen Partikularismus, das Streben nach Recht und Billigkeit (auch und gerade in Gemeinwesen) hingegen für universell — wenn auch für kulturell verschieden ausgeprägt. Während ich darum den Mord von Abbottabad sowohl nach allgemeinen wie auch speziell nach von den USA an anderer Stelle selbst offiziell anerkannten Kriterien als solchen bezeichnen kann und folglich als Unrecht betrachte, scheinst Du die Politik der USA für die ideale Verkörperung rechtsstaatlicher Grundsätze zu halten und billigst — trotzdem? deswegen? — die „territoriale begrenzte Ethik“ gewaltsamer „Realpolitik“. Meine Argumentation scheint mir konsistent und ethisch vertretbar. Deine hingegen …
Vielleicht findest Du ja noch die Zeit, mir das, was mir an Deinen Ausführungen unklar ist, noch einmal zu erklären. Unsere grundsätzlichen Auffassungsunterschiede und unterschiedlichen Beurteilungen werden zwar auch dann vermutlich bleiben, aber wir verstehen dann vielleicht besser, warum wir einander nicht verstehen. Herzlichst, Stefan

Montag, 2. Mai 2011

Di fronte alla morte di un uomo

Mord ist Mord, man mag es nennen, wie man will. Ein Regierungschef ordnet die Tötung eines Menschen an, ohne dass dieser von einem Gericht zum Tode verurteilt worden wäre. Man mag das als „Militäroperation“ etikettieren, ein Mord ist es trotzdem. Der Ermordete mag der schlimmste Verbrecher aller Zeiten gewesen sein, nach rechtsstaatlichen Grundsätzen hätte er verhaftet und angeklagt werden müssen, hätte er die Möglichkeit bekommen müssen, sich zu verteidigen, hätte am Ende eines nachvollziehbaren Verfahrens über seine Taten ein begründetes Urteil gesprochen werden müssen.
Dass die USA im Grunde kein Rechtsstaat sind, haben sie schon oft bewiesen. Gezielte Tötungen sind freilich auch bei anderen Unrechtsstaaten (wie Israel) üblich. Selbstverständlich redet man sich dabei damit heraus, man sei eben im Krieg: Die oder wir. Mit dieser Herrenmenschenlogik bestätigt man jedoch bemerkenswerterweise die Argumentation der Gegenseite, und es stellt sich (wie unter raufenden Kindern) nur noch die Frage, wer angefangen hat. Wer war also zuerst böse, der Imperialismus oder al-Quaida, der Staat Israel oder die Hamas?
Nun ist das Monster, das man selbst geschaffen hatte, tot. Gewiss, die Effekte des Phänomens waren real, aber noch viel bedeutender war der Reiz des Popanzes, auf den man verweisen konnte. Ich behaupte nicht zu wissen, ob alles, was man „den Terroristen“ zur Last legt, auch wirklich von ihnen und nur von ihnen zu verantworten wäre oder nicht, aber ich bin mir sicher, dass echter oder inszenierter „Terror“ und echte oder vermeintliche „Terrorgefahr“ den herrschenden Kräften sehr zupass kommen.
Der Kampf gegen die, die angeblich alle westlichen Werte hassen, wird gern zur Rechtfertigung dafür angeführt, eben diese „Werte“ mit Füßen zu treten. Doch wie gesagt, selbst der schlimmste Verbrecher aller Zeiten hätte aus ethischer Sicht nicht einfach abgeknallt werden dürfen. Weder liegt eine echte Kriegshandlung vor noch ein Tyrannenmord. Anscheinend konnte man es aber nicht wagen, den Vorverurteilten vor Gericht zu stellen. Das ist nicht nur aus rechtlichen Erwägungen abscheulich, sondern auch aus politischen und historischen Gründen bedauerlich.
Der exzessiv jubelnde Pöbel in den USA und die westlichen Regierungen, die nun die Exekution eines Menschen unisono begrüßen, beweisen einmal mehr die moralische Verkommenheit des Westens, der sich zwar gerne mit Vokabeln wie „Freiheit“ und „Demokratie“ schmückt, tatsächlich aber auch und vor allem für Gewalt und Willkür steht.
Inmitten eines Meeres von Hass wirken die sehr ernsthaften Worte, die der Pressesprecher des Heiligen Stuhles, P. Federico Lombardi SJ, heute gefunden hat, wie eine verlorene Insel der Vernuft: Di fronte alla morte di un uomo, un cristiano non si rallegra mai, ma riflette sulle gravi responsabilità di ognuno davanti a Dio e agli uomini, e spera e si impegna perché ogni evento non sia occasione per una crescita ulteriore dell’odio, ma della pace. (Angesichts des Todes eines Menschen empfindet ein Christ niemals Freude, sondern bedenkt die schwere Verantwortung eines jeden vor Gott und den Menschen und hofft und strebt danach, dass das, was geschieht, nicht zu mehr Hass führen möge, sondern zu mehr Frieden)