Montag, 31. Oktober 2011

Deuteroprotestantismus

Wer die römisch-katholische Kirche schädigen und gar zerstören will, muss nur darauf drängen, dass sie folgende „Reformen“ endlich durchführt: Abschaffung des Zölibats, Zulassung von Frauen zum Weihepriestertum, entscheidende Beteiligung der Laien an der Kirchenleitung, Aufgabe einer verbindlichen Moral (insbesondere im Bereich der Sexualität), Abschaffung der Ehe als Sakrament (und darum Einführung von Scheidung und Wiederverheiratung) sowie Unverbindlichkeit aller theologischen Lehrinhalte überhaupt. Heraus käme ein Deuteroprotestantismus, ein zweiter Protestantismus also, einer mit einer etwas anderer Folklore, aber eben doch bloß ein Protestantismus.
Inwiefern das beschädigt und zerstört? Ein Vergleich gibt Auskunft. In Deutschland sind der katholische und die evangelische Anteil an der Bevölkerung grob gerechnet in etwa gleich groß, jeweils etwas weniger als ein Drittel aller Einwohner. Bekanntlich haben die Glieder der „Evangelischen Kirche in Deutschland“ längst all das, was „Kirchenkritiker“ und „Reformer“ von der römisch-katholischen Kirche erst verlangen: verheiratete Pastoren, weibliche Pastoren, bedeutende Mitwirkung der Nichtpastoren auf allen Leitungsebenen, Ehescheidung und Wiederverheiratung, keine strengen Moralvorstellungen und eine weitgehend unverbindliche Theologie. Trotzalledem sind die evangelischen Gotteshäuser sonntags noch leerer als die katholischen und war — bis im Jahr 2010, als das Medienspektakel des „Missbrauchsskandals seinen Höhepunkt erreichte — die Zahl der Kirchenaustritte sowohl in absoluten wie in relativen Zahlen immer höher als bei den Katholiken.
Wenn der Protestantismus es also nicht schafft, die Leute in die Kirche zu bringen und in der Kirche zu halten, wenn es ihm nicht gelingt, über ein paar erbaulich-unverbindliche Reden bei dieser oder jener Gelegenheit hinaus auf das Leben der Einzelnen und der Gesellschaft einzuwirken, warum sollte das dann ein zum Deuteroprotestantismus mutierter Katholizismus vermögen? Er wird im Gegenteil das gleiche Schicksal erleiden und einen Schwund an Einfluss, Bedeutung und Mitgliederzahl erleiden.
Allerdings ist der deutsche Protestantismus nicht der Protestantismus insgesamt. Weltweit haben gewisse (meist aus den USA stammende) Sekten, besonders fundamentalistische, großen Zulauf. Daran könnte sich der Katholizismus ein Beispiel nehmen, nicht indem er sektiererisch und fundamentalistisch wird, sondern indem er sich selbst ernst nimmt und die Verbindlichkeit seiner Lehre und seiner Vorschriften stärkt statt schwächt.
Die römisch-katholische Kirche wächst, nämlich in weltweitem Maßstab, und wo sie wächst, hat sie übrigens auch nahezu keinen Priestermangel. Das Problem ist das säkularisierte und atheismifizierte Europa. Nur hier (und naturgemäß in den USA) führen „Kritiker“ und „Reformer“ das große Wort. Aber derlei ist bloß Symptom des Niedergangs, nicht der Erneuerung.
Wenn man also, auch als Nichtkatholik, der katholischen Kirchenführung etwas zu raten hätte: Vergesst Europa, lasst Euch von Protestanten, Sektierern, Fundamentalisten und Atheisten nicht in die Enge treiben, erneuert die Kräfte der Kirche aus bester Überlieferung und dem lebendigen Christentum in Afrika, Asien und Südamerika. Je katholischer der Katholizismus ist, desto besser für ihn. Ihn zu einem Deuteroprotestantismus machen zu wollen, ist hingegen eine diabolische Strategie.

Dienstag, 25. Oktober 2011

Raus? Aber gern!

Für gewöhnlich ist mir alles, was von der und in der großbritischen Konservativen Partei an politischen Projekten befürwortet wird, von Grund auf zuwider. Jetzt aber finde ich ausnahmsweise Gefallen daran, dass, wie ich den Nachrichten entnehme, 80 Abgeordnete der Konservativen ihrem Parteivorsitzenden und Regierungschef die Gefolgschaft verweigerten und im Parlament entgegen dessen striktem Befehl für ein Anti-EU-Referendum stimmten.
Ich hoffe sehr, der Trend setzt sich fort. Wie man hört, sind zwei Drittel der Großbriten und Nordirländer für einen Austritt aus der Europäischen Union. Sehr gut! Ich bin auch dafür! Das Vereinigte Königreich soll die EU verlassen (und am besten Dänemark und Schweden mitnehmen).
Dann gibt es endlich auch keinen Grund mehr, in Europa dauernd Englisch zu schwatzen (die Staatssprache Irlands ist ja eigentlich Gälisch). Ich plädiere für eine romanische Sprache, am liebsten Italienisch, als EU-Amtssprache. Nicht um Dolmetscher und Übersetzer arbeitslos zu machen, die sollten weiter im Einsatz bleiben, sondern um das Projekt der europäischen Integration voranzutreiben und ästhetisch aufzuwerten.
Wenn die Nordeuropäer raus sind (oder, wie Island, gar nicht erst rein kommen), ist dann auch Platz genug für die Aufnahme der südeuropäischen Länder Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen und Ägypten in die Europäische Union. (Vgl. den Broniowski-Plan.) Die Türkei muss sowieso dazu. Und bald auch Syrien und der Libanon. Auf zum Imperium Romanum redivivum!
Ach, schon der bloße Gedanke an einen EU-Austritt der Engländer stimmt mich heiter und verschönt mir den Tag. Get out, you bloody bastards! Wie man das wohl auf Italienisch sagt?

Sonntag, 16. Oktober 2011

Liberty Plaza

Wenn’s ihnen Spaß macht … Sollen sie doch gegen Bankenmacht und Profigier die Wallstreet (oder zumindest den Zuccotti Park, der früher wohl mal Liberty Plaza Park hieß) okkupieren, sollen sie Transparente schwingen, Sprechchöre trällern und Reden, viele Reden von sich geben — und sich nicht zuletzt im Internet tummeln. Sollen sich doch Hunderte, Tausende, Zehntausende überall in den Metropolen der westlichen Welt ihnen anschließen und ihr eigenes Ding machen. Warum nicht? Kapitalismuskritik ist gerade in. Bald ist sie es wieder nicht mehr. Carpe diem!
Manches, was manche von den aktuellen Protestierern vorbringen, ist gar nicht so unsympathisch. Anderes wiederum ist Unsinn. Da passt inhaltlich Vieles nicht zusammen, aber stilistisch bildet es doch ein kohärentes Phänomen. Mit revolutionärem Chic. Was viele seit langem gesagt haben, haben spätestens jetzt auch viel Jüngere entdeckt. Die Übel sind ja auch wirklich nicht zu übersehen, wenn man erstmal hinschaut und nachdenkt.
Das Bürgertum ist verunsichert. Das Versprechen der Oberen, den Mittleren durch Ausbeutung der Unteren Wohlstand zu sichern, scheint vorübergehend ein wenig an Überzeugungskraft einzubüßen. Dass die Reichen immer reicher werden und die Armen ärmer, diese raison d’être der „marktwirtschaftlich“ orientierten Gesellschaften, funktioniert zwar noch, aber es gibt für den Mittelstand Zweifel, ob er sich in seiner Masse wirklich nach oben bewegt oder nicht doch auch nach unten. Man kann’s mit der Ausbeutung auch übertreiben. Da hilft dann selbst die Zerstreuung mittels Konsumspielsachen nicht mehr völlig über alles hinweg.
Aber soll sich wirklich etwas ändern? Im Grundsätzlichen?
Die Leutchen von Occupy Wallstreet haben Recht. Sie gehören zu den 99 Prozent, die bleiben, wenn man ein Prozent Superreiche abzieht. Aber das verweist auf ein viel grundsätzliches Problem. Der Kapitalismus kommt, wie jedes Herrschaftssystem, von unten. Damit ein solches System funktioniert, braucht es nicht nur die, die am meisten profitieren und die den unmittelbarsten Einfluss ausüben. Es braucht vor allem die mehr oder minder willige Masse der Mitmacher. Auf jeden, der etwas anordnet, kommen Hunderte, Tausende, Millionen, die gehorchen.
Gewiss, man hat keine Wahl oder scheint keine zu haben. Man ist a priori Teil des Systems. Das ändert aber nichts daran, dass diese systemimmanente Alternativlosigkeit nur deshalb funktioniert, weil sie performiert wird. Anders gesagt, die Leute erzeugen den Zwang, dem sie sich unterwerfen, selbst.
Kapitalismus ist das Resultat eine demokratischen Prozesses. Er entspricht den Wünschen der Mehrheit, mögen diese Wünsche auch noch so manipuliert sein. Diesem Wahnsinn nun ausgerechnet „Demokratie“ (sei sie liquide oder sonstwie aggregiert) entgegensetzen zu wollen, ist nur neuer Wahn. Um es zum fantastillionsten Mal zu sagen: Demokratie bedeutet nicht, dass das Volk regiert, sondern dass die Bevölkerung dem Regiertwerden zustimmt (und dies in institutionalisierter Form zum Ausdruck bringen kann). Demokratie ist nicht identisch mit Rechtsstaat, die Anerkennung von Bürger- und vor allem Menschenrechten ist nicht an demokratische Strukturen gebunden.
Die Vorstellung, alles würde gut, wenn nur alles immer von den Leuten selber bestimmt würde, ist bizarr. Man nenne mich selbstgerecht und überheblich, aber ich habe kein Zutrauen zum Verstand der Masse meiner Mitmenschen. Warum sollten dieselben Leute, die in den Beziehungen untereinander, im Weltverhältnis und im Selbstverständnis so erschreckend selten Intelligenz, Geschmack oder Verantwortung zeigen, sich mit einem Mal ganz anders verhalten, warum sollten dieselben Leute, die sich, wie ihr Konsumverhalten und ihr Räsonieren beweist, jeden Unfug aufschwatzen und jeden Blödsinn einreden lassen, plötzlich in ihrer Mehrheit richtige politische Entscheidungen treffen können?
Oder geht es gar nicht um richtig und falsch? Geht es bloß darum, dass etwas „demokratisch“ ist? In einer Welt, in der ständig über alles und jedes abgestimmt würde und die Mehrheit entscheidet, was zu tun ist, möchte ich nun wirklich nicht leben. Das wäre der reinste Terror.
Es ist mehr als naiv, es ist gefährlich paranoid, anzunehmen, man müsse nur die Herrschaftsstrukturen suspendieren und die von jedem äußeren Zwang befreiten Subjekte würden plötzlich souverän. Denn die inneren Zwänge, also das, als was die Subjekte sich geformt haben und sich formen lassen haben, bestehen ja weiter fort. Der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit ist ein Programm, das leider nicht funktioniert, weil die Unmündigkeit nicht darin besteht, sich des eigen Verstandes nicht ohne Leitung eines anderen bedienen zu können, sondern weil der real existierende Verstand selbst nicht vom Himmel gefallen, sondern ein Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Es gälte demnach erst, diese Verhältnisse zu stören und den Verstand umzuformen — also anders zu leben und zu denken —, um mündig zu werden.
Aber wer schafft das schon? Ist die symbolische Besetzung der Wallstreet ein Schritt dorthin? Wohl kaum. Dieses Gesellschaftssystem hat kein finsteres Herz, kein alles steuerndes Superhirn, das man nur auszuschalten oder umzufunktionieren braucht, um alles gut werden zu lassen. Gewiss gibt es Machtzentren, aber im Wesentlichen funktioniert der Kapitalismus, wie jedes stabile Herrschaftssystem, dezentral, plural, heterogen und mit Widersprüchen. Krisen sind sein Lebenselement. Weshalb auch das mehr oder minder kritische Denken, wie es sich an der „Liberty Plaza“ kristallisiert, eher ein Beitrag zur permanenten Evolution sein dürfte, der den Strukturen Impulse verleiht, diese zur ihrem ständigem Umbau benötigen. Eine breite gesellschaftliche Dynamik, die morgen oder übermorgen, den Kapitalismus hinwegfegt (und durch welche andere Wirtschaftsordnung ersetzt?) kann ich jedenfalls nicht erkennen.
Trotzdem: Wenn’s ihnen Spaß macht … Man sieht gern zu, man macht gern mit. Es wird die Welt nicht verbessern, aber besser als Nichtstun ist es allemal.

Samstag, 15. Oktober 2011

Aufgeschnappt (bei einem Autor um 1800)

Der Buchhandel liegt in einem so tiefen Verfall und wird mit jeder Messer soviel schlechter, daß selbst angesehene Buchhändler erschrecken, wenn ihnen ein Manuskript, das nicht einen schon berühmten Namen zum Garant hat, angeboten wird. Die Buchläden sind mit Romanen [...] aller Art dermaßen überschwemt, daß ihnen jeder [Euro] zuviel ist, den sie für [...] einen Roman, der nicht von [einem Bestseller-Autor] kommt, geben sollen.

Christoph Martin Wieland (1733-1813)

Wieland schreibt hier außer von Romanen eigentlich auch von Theaterstücken, sagt selbstverständlich Taler, nicht Euro, und nennt die damaligen Bestseller-Autoren Kotzebue, Schiller, Richter,  La Fontaine, Huber beim Namen.


Sonntag, 2. Oktober 2011