Mittwoch, 29. Februar 2012

Die Schuldigen im Ausland

Jemand, der hier A. heißen soll, berichtet, wie es sich gehört, regelmäßig bei Facebook über all sein Wohl und Wehe. Unlängst schrieb er (und ich übersetze): „Nur in Europa … Ein Typ im Sessellift neben uns zündet sich eine Zigarette an, der Wund bläst den Rauch in unsere Richtung, dann ist er überrascht und empört, als wir uns beschweren und ihm sagen, wie schlecht Passivrauchen ist … Seine Antwort: Das Leben selbst ist gefährlich.“
Eine ganz alltägliche Geschichte: Jemand benimmt sich schlecht, indem er unnötigerweise andere mit seinen Lebensäußerungen belästigt, und als diese anderen ihn auf sein Fehlverhalten aufmerksam machen, gibt er eine vorlaute Antwort. So weit, so banal. Doch mindestens zwei Dinge lassen mich aufhorchen, zum einen die einleitende Wendung „only in Europe“ und zum anderen die Stelle „we complain and tell him how bad second-hand smoke is“.
A. ist, soweit ich weiß, gebürtiger Österreicher und naturalisierter US-Bürger. Dasselbe gilt für seine Frau und wohl auch die beiden Kinder (Junge und Mädchen, beide Teenager). Er ist zum Skifahren in irgendwo in Tirol oder Salzburg oder — was weiß ich, für mich endet Österreich am Semmering. A. ist, das geht nicht nur aus seinen Mitteilungen bei Facebook hervor, sehr bemüht, ein hundertfünfzigprozentiger Amerikaner zu sein. Das erklärt auch, warum er seiner Erzählung einer an sich trivialen und nicht weiter erwähnenswerten Geschichte — allerdings, was ist in der Facebook-Kommunikation von Millionen Menschen nicht alles eigentlich nicht erwähnenswert! —, dass er also seiner Mitteilung eines nicht weiter berichtenswerten Alltagserlebnisses das deutende „Nur in Europa …“ voranstellt. Die Wendung hat ja kein Prädikat, aber man wird „Das gibt es nur“ ergänzen dürfen. Nur in Europa also kann einem sowas passierten. Aber was? Gibt es anderswo, etwa in den USA, keine Rüpel? Keine Nikotinabhängigen, die einen mit dem gasförmigen Abfallprodukt ihres Suchtverhaltens belästigen? Das glaube ich nicht.
Was in Europa anders ist als in den USA, zumindest nehme ich an, dass A. das sagen will, ist die Reaktion des Rauchers, nachdem man sich bei ihm beschwert hat und ihn daran erinnert hat, dass Passivrauchen doch bekanntlich gesundheitsschädlich ist. Statt sein Fehlverhalten einzusehen, sich zu entschuldigen und Besserung zu versprechen, gibt er ein flapsige Antwort. Passivrauchen gefährdet die Gesundheit? Das Leben selbst ist gefährlich.
Mir scheint dies, die Art des Vorwurfs und die Reaktion darauf das eigentlich Bemerkenswerte, auch wenn in der Darstellung von A. nicht ausdrücklich gesagt wird, worum es geht, wohl weil er ihm die Voraussetzungen, die er macht, so selbstverständlich sind, dass er sie nicht ohne weiteres explizieren könnte.
Im Grunde ist ja, wenn einem jemand Zigarettenrauch ins Gesicht bläst, keine Berufung auf irgendwelche medizinische Fakten erforderlich. Es gehört sich einfach nicht, andere auf diese Weise zu belästigen. Man rülpst und furzt ja anderen auch nicht ins Gesicht. Ob die Belästigung absichtlich geschieht oder zufällig, spielt keine Rolle. Tritt man jemandem in der Straßenbahn unabsichtlich auf den Fuß, entschuldigt man sich ja auch. So weit, so herkömmlich.
Dass die Neo-Amerikaner (also A. und vermutlich seine Frau, vielleicht auch die Kinder, genauer wird das von A. erwähnte Wir ja nicht erklärt), dass also die sich besonders amerikanisch gebenden Neo-Amerikaner sich nicht auf die Regeln guten Benehmens berufen, sondern auf die Gefahr für ihre Gesundheit aufmerksam machen, ist allerdings, so meine ich, charakteristisch. Gewiss ist Passivrauchen gesundheitsschädlich, aber man wird schon fragen dürfen, wie lange man im Freien bei Wind und Wetter in einem Sessellift neben einem Kettenraucher sitzen müsste, bis wirklich eine merkbare gesundheitliche Beeinträchtigung einträte …
Der rüpelhafte Raucher hat sich danebenbenommen, keine Frage, aber er dürfte wohl niemand anderes Gesundheit gefährdet haben, bloß seine eigene. Warum also dieses Argumentieren mit „second-hand smoke is bad“? Weil das Teil des herrschenden Diskurses ist. Es geht aus dessen Sicht nicht darum, dass jemand mit seinem Rauchverhalten andere belästigt, es geht darum, dass Rauchen selbst ein Fehlverhalten ist. So wird bekanntlich argumentiert, seit vor Jahren die Anti-Rauch-Bewegung in den USA aufkam, die vor einiger Zeit auch nach Europa schwappte. Der Einzelne wird in die Pflicht genommen, sich gesundheitsbewusst zu verhalten und das gesundheitsbewusste Verhalten anderer nicht zu stören. Wer davon abweicht, ist ein Übeltäter, den es zu disziplinieren gilt.
Entsprechend waren auch die Kommentare zu A.s kleiner Erzählung. Man führte Klage darüber, wie man selbst unter Zigarettenrauch leide, oder gab Hinweise, wie A. und die Seinen sich hätte zur Wehr setzen sollen: durch einen gezielte Gewaltanwendung etwa (wenn einer aus dem Lift fällt, kann er sich nicht beschweren, wenn er doch das Leben für gefährlich hält) oder wenigstens durch Herbeizitieren des Liftbetreibers, der gefälligst für anständiges Verhalten unter seinen zahlenden Kunden zu sorgen habe. (Denn immerhin ist, das zeigt auch ein von A. beigebrachtes Lichtbild, das Rauchen im Lift verboten.) Nun, da vermutlich die Einschaltung der örtlichen Polizei wenig bringen würde und eine private Handfeuerwaffe vielleicht gerade nicht zur Hand war, wäre auch noch der Einsatz von Marineinfanterie zu erwägen gewesen … (Einer freilich, vielleicht ein Alt-Europäer sagte, er sei selbst Raucher und frage Leute in seiner Nähe immer, ob es ihnen etwas ausmache, bevor er sich eine Zigarette anzünde, wenn er aber geschulmeistert würde, würde er sich auch aufregen!)
Only in Europe …? Wenn dem so ist, macht es mir das gute, alte Europa sehr sympathisch. Denn ich selbst bin zwar von Geburt an Nichtraucher und in den letzten 46 Jahren unzählige Male gegen meinen Willen zum Passivrauchen gezwungen worden, weshalb es mir also völlig fernliegt, das rücksichtslose Verhalten von Nikotinsüchtigen zu verharmlosen oder gar zu verteidigen, aber es stört mich vor allem deshalb, weil es eine starke olfaktorische Belästigung ist — wie auch unappetitlicher Körpergeruch, Fastfoodgestank in öffentlichen Verkehrsmitteln oder penetrantes Parfüm im Theater. Ob Raucher ihre Gesundheit gefährden, ist hingegen ihre Sache, nicht meine oder die des Staates bzw. der „Gesellschaft“. Dieser pseudomedizinische Diskurs, wo es eigentlich bloß um Fragen der Höflichkeit geht, widert mich an. Er macht aus einer Frage der Umgangsformen eine Problematisierung von Verhaltensabweichung und aus dieser womöglich gar ein Delikt.
Typisch europäisch? Typisch amerikanisch? Einer kommentierte A.s Erzählung und die übrigen Kommentare so: „… and that’s exactly why I want to stay in the US“. Diese Einstellung halte ich für vorbildlich. Einfach daheim bleiben, dann erspart man sich als Amerikaner den Kontakt mit diesen europäischen Barbaren, die den aktuellen Stand der Disziplinierung noch nicht erreicht haben.

Der Titel dieser Glosse spielt an auf Mark Twains Reisebericht „The Innocents Abroad“  aus dem Jahr 1869 (als „Die Arglosen im Ausland“ ins Deutsche übersetzt) .

Dienstag, 28. Februar 2012

Aufgeschnappt (bei einem USA-Experten)

Mehr Angst davor, dass der Russ’ kommt, hab ich davor, dass Amerikaner kommt. Ja, wenn der Amerikaner kommt, der fährt nicht nur Ski, der bringt uns seine Bräuche und scheißt uns zu mit seinem ganzen Lebensding. Bräuche! Was die alles haben da: Waterboarding, Halloween, Koranverbrennung, alles ... Der Amerikaner an sich macht sich nicht gerne viele Gedanken. Muss man ja sagen.

Michael Mittermeier (Komiker)

Mittwoch, 22. Februar 2012

Die Puffmütter von Avignon

Andere Länder, andere Sorgen. Der französische Premierminister Fillon hat, wie ich höre, unlängst die Behörden seines Landes dazu aufgefordert, fürderhin ganz auf die Anrede „Mademoiselle“ zu verzichten und nur noch „Madame“ zu verwenden. Feministinnen, so heißt es, begrüßten diesen Schritt sehr.
Mich irritiert an diesem Vorgang nicht seine Belanglosigkeit und Dämlichkeit, sondern der Zeitpunkt. Ist es nicht schon seit langem so, dass Französinnen eher als „Madames“ denn als „Mademoiselles“ angesprochen werden möchten? (Während ledige, geschiedene, verwitwete oder unter Künstlerinnamen firmierende US-Amerikanerinnen, soweit ich das mitbekommen habe, das „Misss“ dem „Mrs“ vorziehen.)
Nun gut, wenn also schon gender mainstreaming, dann aber auch richtig. Dann sollte auch, um ein Beispiel von vielen möglichen herauszugreifen, Picassos berühmtes, als Meilenstein der modernen Malerei geltendes Gemälde „Les Demoiselles d’Avignon“ dringend umbenannt werden. Das geht schon in Ordnung, denn der Meister selbst soll den derzeit noch üblichen Titel, der auf den Kunstkritiker André Salmon zurückgehen dürfte, nicht gemocht und sogar abgelehnt haben. Ursprünglich sollte das Bild, so sagt man, „El Burdel de Aviñón“ heißen, nach einem Freudenhaus in einer barcelonischen Straße namens Carrer d’Avinyó, in deren Nähe der junge Pablo Ruiz Picasso gewohnt habe.
Wohlan denn, mit der Umbenennung des 1907 gemalten Bildes in „Les Madames d’Avignon“ würde 105 Jahre später den längst veränderten Verhältnissen angemessen Rechnung getragen. Nicht nur ist Prostitution ja immer schon das Grundmodell des Kapitalismus: größtmöglicher Profit in kürzestmöglicher Zeit bei kleinstmöglichem Aufwand. Mit der Umdeutung von Abhängigkeit und Ausbeutung in Autonomie starker Frauen wäre eine solche Umbenennung auch arbeitsmarktpolitisch hochaktuell.
Die Chefin eines Bordells, so meine ich es aus der französischen Literatur gelernt zu haben, wird üblicherweise Madame genannt, weshalb ihre Mitabeiterinnen wohl Mademoiselles heißen konnten. Diese nun selbst zu Madames umzustilisieren, also aus schlichten Huren wenigstens verbal Puffmütter zu machen, entspricht voll und ganz dem herrschenden Trend zur (Schein-)Selbständigkeit. Wohlgemerkt, in der Frage, wer zahlen darf und wer sich ficken lassen muss, bleibt sehr wohl alles wie bisher. Aber so ist das eben mit dem Feminismus im 21. Jahrhundert: Er hat alles erreicht, aber nichts Wesentliches verändert.

Montag, 20. Februar 2012

Gauck, nicht Gott

Seit Sonntag, 20 Uhr 45, wird also zurückgegauckt. Das hätten CDU, CSU und FDP schon 2010 haben können, aber Mutti wollte ja unbedingt den Mickerling aus Großburgwedel haben. Das hat sie nun davon, die Kröte muss sie runterwürgen. Der Wunschkandiat der Bevölkerung oder der Bildzeitung, was mal wieder dasselbe ist, scheint Gauck jedenfalls zu sein. Man darf gespannt sein, wann das Meckern losgeht.
Hier schon mal ein derzeit vielzitierter Vorgeschmack: „Dass CDU/SPD/FDP und Grüne ihn gemeinsam aufstellen verrät uns, dass uns noch mehr Sozialstaatszerstörung, noch mehr Kriege und noch weniger Demokratie drohen. Einen wie ihn holt man, um den Leuten die Ohren vollzuquatschen.“
Schreibt Jutta Ditfurth über den Kandidaten und fährt fort: „Gaucks neoliberales Verständnis von Freiheit als Freiheit des Bourgeois, schließt soziale Menschenrechte aus. Von sozialer Gleichheit als Bedingung wirklicher Freiheit versteht er nichts. Mit der Agenda 2010 und ihren brutalen Folgen ist er sehr einverstanden, für die Betroffenen und ihre Proteste hat er stets nur Verachtung. Kritik am Kapitalismus findet Gauck lächerlich. Die Entscheidung zur Begrenzung der Laufzeit von AKWs gefühlsduselig.“
Und weiter: „Dem Krieg in Afghanistan hat Gauck die Treue gehalten, denn auch dieser Christ ist ein Krieger. In der Vertriebenfrage ist der künftige Bundespräsident ein Kumpan von Erika Steinbach und hat Probleme mit der polnischen Westgrenze. Was er von Demokratie und Humanismus hält, verrät er, indem er für die Verfassungsschutzüberwachung der Linkspartei eintritt und den Ideologen des Rassismus der Mitte, Thilo Sarrazin, 'mutig' findet.“ Kurzum, der Mann steht politisch, wo irgendwie fast alle stehen: rechts.
Bemerkenswerterweise erwähnt Frau Ditfurth  in ihrer illustrativen Skizze Gaucks früheren Beruf nicht. Andere freilich können sich kaum darüber beruhigen, dass nun ein ehemaliger Kirchenfunktionär Staatsoberhaupt wird und lassen keine Gelegenheitaus, Gauck als Pastor bezeichnen.
Liebe Atheisten, kriegt euch wieder ein! Deutschland steht keine Theokratie bevor. Der Mann ist Protestant, also fast dasselbe wie Atheist. Es ist keineswegs nicht zu befürchten, dass er übers Wasser wandeln, Lahme gehend und Blinde sehend machen wird. Er wird Reden schwingen, Orden verteilen und Kindertagesstätten besuchen. Und nach ungefähr fünf Jahren kommt ein anderer Grüßaugust dran. Mehr ist nicht.

Sonntag, 19. Februar 2012

Aufgeschnappt (bei einer Zeichentrickfigur) (2)

Ich mag mein Bier kalt, meinen Fernseher laut und meine Homosexuellen sollen sich outen.

Homer J. Simpson (created by Matt Groening)

I like my beer cold, my TV loud and my homosexuals flaming.