Sonntag, 24. Juni 2012

Lutz van Dijk vs. Sarah Schulman

Schön, dass Lutz van Dijk endlich einmal die Zeit gefunden hat, alte Zeitungen durchzugehen. Das scheint zumindest sein Kommentar in der „tageszeitung“ vom 23. Juni 2012 zu bezeugen. Er befasst sich dort mit einem Artikel Sarah Schulmans in der „New York Times“, der bereits am 22. November vorigen Jahres erschienen war. (Davon, dass Schulman „nun“ etwas geäußert habe, wie van Dijk es formuliert, kann somit nicht im Ernst die Rede sein.) Leider hatte van Dijk wohl nicht auch noch die Zeit, wirklich zu lesen, was Schulman schreibt. Oder er sagt einfach gern die Unwahrheit. So hat Frau Schulman unter anderem nicht, wie Herr van Dijk ihr vorhält, von „der deutschen Lesben- und Schwulenbewegung“ geschrieben, sondern sehr präzise von der German Lesbian and Gay Federation, also dem LSVD. Sie hat ihren Text auch nicht mit einem Verweis auf den norwegischen Massenmörder „garniert“ und auch nicht gesagt, dieser sei „angeblich“ von Bruce Bawer „beeinflusst“, sondern sie gab korrekt an, der Massenmörder habe den schwulen amerikanischen Kritiker muslimischer Einwanderung zitiert.
Wenn es Lutz van Dijk um sachliche Auseinandersetzung und nicht um plumpe Polemik geht, warum entstellt und verdreht er dann, was Schulman gesagt hat? (Die übrigens noch diese „Garnierungen“ aufbietet: „In the Netherlands, some Dutch gay people have been drawn to the messages of Geert Wilders, who inherited many followers of the assassinated anti-immigration gay leader Pim Fortuyn, and whose Party for Freedom is now the country’s third largest political party. (…) The Guardian reported last year that the racist English Defense League had 115 members in its gay wing.)
Unwahr ist auch van Dijks Behauptung, der von Schulman erwähnte Begriff „pinkwashing“ solle „jene Vertreter sexueller Minderheiten geißeln, die ihr mühsam errungenes Menschenrecht auf sexuelle Selbstbestimmung — das noch immer in nur wenigen Teilen der Welt gilt — angeblich missbrauchen: für dummes Party-CSD-Gehabe, zur Ausgrenzung ebenfalls benachteiligter muslimischer Immigranten und zur Verharmlosung der israelischen Besatzungspolitik in Palästina“. Das ist ein glatte Lüge. Schulman schreibt: „The growing global gay movement against the Israeli occupation has named these tactics ‘pinkwashing’: a deliberate strategy to conceal the continuing violations of Palestinians’ human rights behind an image of modernity signified by Israeli gay life.“
Den Hintergrund beschreibt Sarah Schulman so: „In 2005, with help from American marketing executives, the Israeli government began a marketing campaign, ‘Brand Israel’, aimed at men ages 18 to 34. The campaign, as reported by The Jewish Daily Forward, sought to depict Israel as ‘relevant and modern’. The government later expanded the marketing plan by harnessing the gay community to reposition its global image.“ Sie fährt fort: „Last year, the Israeli news site Ynet reported that the Tel Aviv tourism board had begun a campaign of around $90 million to brand the city as ‘an international gay vacation destination’. The promotion, which received support from the Tourism Ministry and Israel’s overseas consulates, includes depictions of young same-sex couples and financing for pro-Israeli movie screenings at lesbian and gay film festivals in the United States. (The government isn’t alone; an Israeli pornography producer even shot a film, ‘Men of Israel’, on the site of a former Palestinian village.)
Bemerkenswerterweise geht Lutz van Dijk mit keinem Wort auf diese Darstellung ein, er ignoriert sie schlicht. Soll man daraus schließen, dass er ihren Wahrheitsgehalt nicht in Zweifel zieht, und darum seine Zuflucht zu ebenso allgemeinen wie unfairen und sachlich falschen Behauptungen nehmen muss?
Van Dijk meint: „Nicht die Kritik an jenen Vertretern des Islam, die schwulen- und frauenfeindlich auftreten, ist das Problem, sondern die Pauschalisierung dieser Kritik.“ Hat jemand etwas anderes behauptet? Zumindest nicht Sarah Schulman, die vielmehr schrieb: „These depictions of immigrants“ (auf die ihr Text zuvor verwies) „ — usually Muslims of Arab, South Asian, Turkish or African origin — as ‘homophobic fanatics’ opportunistically ignore the existence of Muslim gays and their allies within their communities.“ Mit anderen Worten, die Kritik an (realen, besonders aber imaginären) schwulen- und frauenfeindlich Muslimen ist der Vorwand für eine pauschale Gleichsetzung des Islam mit Schwulen und Frauenfeindlichkeit.
Van Dijk meint: „Nicht die endlich auch in Israel erstrittenen Rechte für sexuelle Minderheiten sind das Problem, sondern das Infragestellen dieser Rechte als ‘Werbemittel’ für den sich liberal gebenden Staat Israel.“ Als ob irgendjemand, gar Sarah Schulman, die besagten Rechte in Frage gestellt hätte! Nicht die „Rechte“, sondern das falsche Bild, das mit dem gezielten Hervorheben einer vermeintlichen Homosexuellenfreundlichkeit gezeichnet wird, wird mit dem Begriff „pinkwashing“ angesprochen (der nicht oder nicht nur, wie van Dijk meint, mit „brainwashing“ zu tun haben dürfte, sondern zumindest auch oder vor allem mit „whitewashing“).
Van Dijk meint: „Das Problem ist nicht, dass es auch rechte und rassistische Politiker gibt, die – leider – zuweilen schwul sind. Das Problem ist, dass sexuelle Orientierung hier zu einem qualitativen Persönlichkeitsmerkmal erhoben wird, das es nicht ist: Weder die Hautfarbe noch die Religion und eben auch nicht die sexuelle Orientierung sagen etwas aus über die menschliche Qualität einer Person. Und das bedeutet in der Umkehrung, dass Menschenrechte unteilbar sind. Sie gelten für Palästinenser wie Israelis, für VertreterInnen sexueller Mehrheiten wie Minderheiten.“ Wer hätte etwas anderes gesagt? Sarah Schulman (oder gar die van Dijk wohl besonders verhasste Judith Butler) als Vertreterin eines Essenzialismus, der sexuelle Orientierung zu einem qualitativen Persönlichkeitsmerkmal erhebt? Wie lächerlich möchte Lutz van Dijk sich machen. Davon kann keine Rede sein. Das Argument, dass er zu verstehen (oder wahrzunehmen) sich so hartnäckig weigert, ist vielmehr ein anderes: Dass es kein Widerspruch (mehr) ist schwul oder lesbisch oder sonstwie nicht-heterosexuell zu sein und für die „Rechte sexueller Minderheiten“ einzutreten und gleichzeitig xenophob, nationalistisch und rassistisch zu sein. Ja, dass im Gegenteil sogar die Vorkämpfer für die Rechte sexueller Minderheiten sich in explizit xenophobe, rassistische, nationalistische Bewegungen eingliedern. (Jasbir Puar hat das mit dem Begriff „Homonationalismus“ bezeichnet, den Schulman aufgreift; wie erbost wird Lutz van Dijk erst sein, wenn er nach Butler und Schulman auch Puar als Lieblingsfeindin entdeckt!)
Nichts von dem, was Sarah Schulman vorigen November sagte, wird von Lutz van Dijk widerlegt. Erstens, weil er es falsch wiedergibt, und zweitens, weil er kein Gegenargument vorbringt. Dümmliche Bemerkungen wie die, Judith Butler und Sarah Schulman hätten sich mit ihren Provokationen im eher biederen US-amerikanischen Kontext einen Namen gemacht, die notwendige Aufklärung hätten sie jedoch nicht vorangetrieben, zeugen nicht gerade von besonderer Sachkenntnis. Wenn van Dijk anmerkt, von Pauschalisierungen und Generalisierungen bliebe meist nichts als Spektakel übrig, so fällt das bedauerlicherweise auf seine eigenen Ausführungen zurück.
Lutz van Dijk ist seit vielen Jahren ein verdienter Aktivist. Er hat lesenswerte Bücher geschrieben und seinen Einsatz für Menschenrechte in Südafrika und anderswo kann man gar nicht genug bewundern. Welcher Teufel ihn aber nun reitet, sich in einen ebenso aussichtslosen wie nur für Uninformierte zustimmungsfähigen Kleinkrieg gegen Schulman und Butler zu verrennen, ist nicht nachzuvollziehen. (Der Unsinn, den er in der Broschüre „Ist Liebe ein Menschenrecht?“ gegen Butler schreibt, wäre ein Kapitel für sich, das ein anderes Mal aufgeschlagen zu werden verdient …) Irgendeinen politischen Sinn außer den der Spaltung und Aufhetzung kann man darin schwerlich erkennen. Van Dijk möchte, das ist immerhin „Mehrheiten“ schaffen, um „Minderheiten“ zu schützen und rechtlich gleichzustellen. Warum ihm dabei die grundsätzliche Kritik an falschen und schädlichen Positionen und Strategien, ob sie nun von Mehrheiten oder Minderheiten propagiert und praktiziert werden, ein solcher Dorn im Auge sind, weiß ich nicht. Er erklärt Butler und Schulman wegen ihrer radikalen Kritik kurerhand zu Fundamentalistinnen. Nun, Oberflächlichkeit und leeres Geschwätz sind allerdings auch keine Lösung. Und die Aufklärung befördert man sicher nicht durch die aufgeregte Verbreitung von Unwahrheiten.
 

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