Samstag, 21. Juli 2012

Vermischte Meldungen (6)

In einem auch sonst nicht empfehlenswerten (weil einseitigen, lücken- und fehlerhaften) Buch über den Spanischen Bürgerkrieg habe ich dies gefunden: „Die bisherige Koalition bekam aufgrund des Zusammenschlüsse begünstigenden Wahlrechts eine größere Mehrheit in den Cortes [dem spanischen Parlament] als sich dieses in den Stimmenergebnissen abbildete.“ Da hat aber mal einer, der immerhin in Köln, Wolgograd und London studierte, das Prinzip der repräsentativen Demokratie sehr hübsch auf den Punkt gebracht: Was die Leute wählen, soll gefälligst eine Abbildung der Sitzverteilung im Parlament sein. Der Autor dieses Unsinns dankt im Vorwort seiner Frau dafür, dass sie mit viel Geduld sein Manuskript überarbeitet habe. Nicht nur an dieser Stelle scheint die Geduld oder die Dame selbst versagt zu haben.

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Auch das ist hübsch. Nicht gerade ein Beispiel für Gewaltentrennung, aber umso lehrreicher. Der Deutsche Bundestag forderte durch eine mit großer Mehrheit beschlossene Entschließung die Bundesregierung auf, ihm einen Gesetzentwurf (mit dem Beschneidung aus religiösen Gründen legalisiert werden soll) vorzulegen. Das oberste Organ der Legislative erbittet also vom obersten Exekutivorgan ein Gesetz. Die Abgeordneten hätten zwar selbst das Initiativrecht, scheinen aber davon keinen Gebrauch machen zu wollen. Die sich einem unvoreingenommenen Beobachter aufdrängende Frage, warum eigentlich die Regierung nicht gleich selbst die Gesetze beschließen kann, statt jedes Mal diesen lästigen symbolischen Umweg über das Parlament nehmen zu müssen, können einem die Verfechter der Repräsentativdemokratie sicherlich erklären. Anscheinend fügt die Absegnung durch die Abgeordneten den Paragraphen etwas hinzu, über das die Bürokraten und Lobbyisten, die ja die Gesetz tatsächlich machen, nicht verfügen. Was war das noch gleich? Ach ja: Legitimität. Na dann.

Sonntag, 15. Juli 2012

Nie wieder Krieg „ohne uns“

„Ohne uns“ könne keine Haltung sein, sagte der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck, als er vor der Bundeswehr Haltung annahm und Militäreinsätze als Lehre aus der deutschen Geschichte hinstellte. (Mehr dazu siehe hier.) Dass Mitmischen und Mitverdienen an Tod und Zerstörung viel bessere, weil profitablere Einstellungen sind als Friedensliebe und Kriegsverweigerung, denkt zweifellos auch die Bundesregierung, der Gauck unterstellt ist. Einem Bericht im „Spiegel“ zu Folge ist derzeit geplant, Rüstungsexporte zu „vereinfachen“: „Die Bundesregierung will den Export von Waffen und Rüstungsgütern vereinfachen und damit der Industrie entgegenkommen. (…) Ziel sei es, ‘das Außenwirtschaftsrecht zu entschlacken’ und ‘deutsche Sondervorschriften aufzuheben, die deutsche Exporteure gegenüber ihren europäischen Konkurrenten benachteiligen’ (…) Die Entwürfe passen deutsches Recht an die weniger restriktiven EU-Regeln an und erleichtern damit Rüstungsexporte deutscher Firmen in alle Welt.“
Deutschland ist bereits jetzt der weltweit drittgrößte Rüstungsexporteur. Das einträgliche Geschäft wird öffentlich kaum in Frage gestellt. Nur wenn mal die Einkaufsliste eines Großkunden, also in der Regel einer Diktatur, bekannt wird, regt sich etwas Unmut. Ansonsten gilt: Herstellung und Vertrieb von Mitteln zum Töten und Zerstören sichern Arbeitsplätze und Milliardenprofite. Wer könnte da etwas dagegen haben?

Donnerstag, 12. Juli 2012

Aufgeschnappt (bei einem Aussteiger)

Um in politische Verantwortung zu kommen, müsste ich so vieles an Überzeugung aufgeben, dass mir der Preis dafür zu hoch erscheint. Ich kann das System nicht verändern, bin aber auch nicht bereit zu akzeptieren, dass das System mich verändert, nur um einer politischen Karriere zu dienen. 

Harald Christ (Ex-Politiker)

Wo hamse jedient, Herr Präsident?

Wie nett. Der oberste Märchenonkel der Nation erzählt den Chefs zukünftiger Killerkomandos einen vom Pferd. Anders gesagt: Der Deutsche Bundespräsident hält eine Rede in der Führungsakademie der Deutschen Bundeswehr. (So geschehen vor einem Monat, am 12. Juni 2012.) Was Joachim Gauck da den Kriegsknechten und Kriegsmägden zu sagen hat, ist herzallerliebst. Zum Beispiel: „Welch ein Glück, dass es gelungen ist, nach all den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur und nach den Gräueln des Krieges, in diesem Land eine solche Armee zu schaffen.“ Genau, das ist sicher das größte Glück nach einem von Deutschland angefangenen, mit äußersten Vernichtungswillen geführten und jämmerlich verlorenen Krieg, dass Deutschland wieder Streitkräfte hat, mit denen bei Bedarf auch wieder Krieg geführt werden kann.
Wer das schon toll findet, wird es noch toller finden, dass es sich, wie Herr Gauck hervorhebt, bei diesen Streitkräften um eine „eine Armee des Volkes“ handelt und zwar „im besten, eigentlichen Sinne, kein Staat im Staate, keine Parteienarmee, sondern eine ‘Parlamentsarmee’, an demokratische Werte gebunden, an Grundgesetz und Soldatengesetz; eine Armee unter Befehlsgewalt eines Zivilisten, rekrutiert aus eigenverantwortlichen Bürgern und heute auch Bürgerinnen, die zu kritischen Geistern gebildet werden in Institutionen wie dieser; eine Armee, deren Einsätze unter dem Vorbehalt der Zustimmung durch unsere Volksvertreter stehen und — wenn auch nicht genügend — öffentlich diskutiert werden“.
Ach, wenn sie solch schöne Worte doch bloß noch hören könnten, dann würde denen, die in Deutschlands derzeitigen Kriegen und „Einsätzen“ schon gestorben sind und noch sterben werden, sicher ganz warm ums Herz. Man krepiert doch mit einer gewissen Erleichterung, wenn man weiß, dass nicht eine Diktatur für den eigenen Tod verantwortlich ist, sondern eine parlamentarische Demokratie, wenn nicht bloß eine Partei, sondern mehrere das Töten und Zerstören durch verfassungskonforme Beschlüsse legitimiert haben.
Auch Herrn Gauck wird’s da schrecklich warm ums Herz, und wes das Herz voll ist, des läuft der Mund über: „Diese Bundeswehr ist keine Begrenzung der Freiheit, sie ist eine Stütze unserer Freiheit.“ Das hört man gern. Man kann sich richtig vorstellen, wie deutsche Soldaten, bevor sie irgendetwas in Schutt und Asche legen oder ein paar Leute massakrieren, höflich sagen: „Ich bin so frei.“
Doch die Bundeswehr entgrenzt nicht nur die Freiheit, nein: „Liebe Soldatinnen und Soldaten, Sie schützen und verteidigen, was uns am wichtigsten ist, auch über die Grenzen unseres Landes hinaus: Freiheit und Sicherheit, Menschenwürde und das Recht jedes Einzelnen auf Unversehrtheit. Sie handeln im Auftrag einer freiheitlichen Demokratie. Sie sind als ’Staatsbürger in Uniform’ Teil dieser Gesellschaft, Sie stehen mit Ihrem Dienst für diese Gesellschaft ein.“
Gut, dass mit dem Auftrag der freiheitlichen Demokratie ist jetzt doppelt, das müssen wir abziehen. „Staatsbürger in Uniform“ ist auch ein alter Hut und nicht wirklich originell (die Alternative wären fremde Söldner, aber die Beschäftigung ausländischer Fachkräfte gilt in Deutschland ja oft als problematisch). Was man sich aber mal richtig auf der Zunge zergehen lassen muss, ist die Gaucksche Behauptung, die Bundeswehr schütze und verteidige — und zwar grenzüberschreitend — Freiheit, Sicherheit, Menschenwürde und Unversehrtheit.
Man könnte nämlich fragen, wie das denn gehen soll, dieses Schützen und Verteidigen zum Beispiel des Rechtes jedes Einzelnen auf Unversehrtheit, wenn es doch in Wirklichkeit ausdrücklich um die Missachtung dieses Rechtes geht. Denn worin besteht, diesseits frommer Sprüche, die Tätigkeit eines Soldaten? Sieht man von unspezifischen Verrichtungen wie Rumlaufen, Rumsitzen, Nasenbohren, Brunnenbohren, Formulare ausfüllen, Leute anschreien usw. usf. einmal ab und konzentriert sich aufs Wesentliche, so muss man doch wohl sagen: Der Beruf eines Soldaten besteht darin, Sachen zu beschädigen oder zu zerstören und Menschen zu verletzen und zu töten, sowie darin, mit beidem, Schaden gegen Personen und Dinge, zu drohen.
Aber hallo, da brandet sicher gleich wieder irgendwo empörter Widerspruch auf und gewisse Soldatenversteher wenden ein: Das machen die doch nur, um andere Menschen und andere Sachen zu schützen (und natürlich „Werte“ wie Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft und Kindergeburtstag). Dazu muss man sagen: Mag sein, dass das als Zweck militärischer Betätigung behauptet wird und womöglich sogar der wirkliche Zweck ist, nur ist daran eben nichts spezifisch Soldatisches. Das Leben und die körperliche Unversehrtheit zu schützen, damit sind ja zum Beispiel auch Krankenschwestern und Ärzte befasst. Gewiss, auch die bringen schon mal den einen oder anderen in ein frühes Grab, aber, und das ist entscheidend, in der Regel nicht mit Absicht. Gezielter Waffengebrauch allerdings — und was ist militärische Aktivität im Kern anderes als ein solcher und die Drohung damit? — gezielter Waffengebrauch also soll mit voller Absicht beschädigen, zerstören, verletzen, töten.
Zu sagen, Soldaten schützten und verteidigten das Recht jedes Einzelnen auf Unversehrtheit, ist demnach so, als ob man Brandstifter als Feuerwehrleute bezeichnete. Allenfalls kann man sagen, hier werde die Unversehrtheit einiger auf Kosten der Unversehrtheit anderer geschützt und verteidigt. Was aber, um etwa als Notwehr gerechtfertigt zu sein, voraussetzte, dass die Unversehrtheit der einen (etwa „der Deutschen“) von den anderen (Afghanen, Somalis, Libanesen, Sudanesen usw.) überhaupt bedroht oder angegriffen würde. Das ist aber nicht der Fall. Keinem Auslandseinsatz der Bundeswehr ist je ein Angriff auf die Bundesrepublik Deutschland vorausgegangen. Wenn aber keine Notwehr vorliegt, dann kann das Kalkül, wonach die Beschädigung der Unversehrtheit der einen zum Schutz der Unversehrtheit der anderen gerechtfertigt, nur dann aufgehen, wenn diese Unversehrtheit wertvoller ist als jene, wenn also Deutsche mehr wert sind als Nichtdeutsche. Somit funktioniert das, was von Joachim Gauck zu Verteidigung und Schutz des Recht jedes Einzelnen auf Unversehrtheit stilisiert wird, nur als Rassismus.
Das dazu. Was nun Freiheit, Sicherheit und Würde betrifft, so gilt erstens dasselbe wie für Gesundheit und Leben: Was man beeinträchtigt oder zerstört, das schützt und verteidigt man nicht; und zweitens gilt, dass man von Freiheit, Sicherheit und Würde nicht mehr viel hat, wenn man tot ist oder verstümmelt oder seiner Habe beraubt. Da mag dann der dies verursacht habende Militäreinsatzes noch so nett parlamentarisch-demokratisch legitimiert sein (übrigens ist bloß vom deutschen Parlament die Rede, nicht vom afghanischen, sudanesischen, somalischen …), solch juristische Feinheiten ändern nichts am realen Elend der Menschen.
Der Herr Bundespräsident Gauck sagt also, was die Aufgaben und die Tätigkeit der deutschen Bundeswehr betrifft, nicht die Wahrheit. Muss er ja auch nicht, dafür wird er nicht bezahlt. Das Amt des Bundespräsidenten ist ja im Wesentlichen bloß dekorativer Natur, und was verbale Behübschung betrifft, da kennt sich Joachim Gauck aus. Er war im Erstberuf bekanntlich protestantischer Pfarrer. Und so kann er auch ganz unverblümt auch an Themen vorbeireden, die andere eher ungern berühren.
Die Bundeswehr sei im öffentlichen Bewusstsein nicht sehr präsent, sagt der Präsident. Es müsse aber über das, was die Soldaten machten und was ihnen abverlangt werde, in der Mitte der Gesellschaft debattiert werden. Einen Grund dafür nennt Gauck nicht. Es ist einfach so, dass es so sein soll. Dass es aber nicht so ist, wie es sein soll, dass nicht in der Mitte der Gesellschaft debattiert und die Bundeswehr dem öffentlichen Bewusstsein präsent gemacht wird, hat einen Grund: Das Nicht-Wissen-wollen.
Hier läuft Herr Gauck nun zu pastoraler Höchstform auf. Onkelhaft kommentiert er das von ihm selbst gerade behauptete Nichtwissenwollen: „Das ist menschlich: Wir wollen nicht behelligt werden mit dem Gedanken, dass es langfristig auch uns betreffen kann, wenn anderswo Staaten zerfallen oder Terror sich ausbreitet, wenn Menschenrechte systematisch missachtet werden. Wir denken nicht gern daran, dass es heute in unserer Mitte wieder Kriegsversehrte gibt. Menschen, die ihren Einsatz für Deutschland mit ihrer körperlichen oder seelischen Gesundheit bezahlt haben. Und dass es wieder deutsche Gefallene gibt, das ist für unsere glückssüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen.“
Moment, Moment, bevor es da holterdiepolter weitergeht, nochmals einen Schritt zurück. In sein verständnisvolles Eingehen auf die menschliche Schwäche, nicht wissen zu wollen, hat der deutsche Bundespräsident einen kleinen rhetorischen Kniff eingebaut, den man nicht übersehen sollte, gerade, weil er ausschließlich dazu da ist, übersehen zu werden. Erst spricht er von der gewollten Ignoranz gegenüber langfristigen Bedrohungen durch Staatszerfall, Terrorausbreitung und Menschenrechtsmissachtung, dann von den schwer erträglichen Opfern, die militärische Einsätze kosten. Ähem. Das ist etwas viel auf engem Raum. Darum der Reihe nach.
Zunächst: Wie viele Staaten sind denn in letzter Zeit so zerfallen?, wenn man mal fragen darf. (Anarchisten würden sagen: Viel zu wenige!) Wenn Herr Gauck auf Afghanistan und Somalia anspielt, so ist der Ver- und Zerfall staatlicher Autorität dort eine Folge von ausländischen Militärinterventionen gewesen. Was zerfiel, waren Diktaturen, ganz richtig, und außer den an diesen Beteiligten wird ihnen keiner eine Träne nachweinen. Aber ein bisschen paradox ist es doch, dass Militäreinsätze vor etwas schützen sollen, was geradewegs durch Militäreinsätze herbeigeführt wurde.
Auch mit der Ausbreitung von „Terror“ ist das so eine Sache. Terrorismus wird verstanden als „die Anwendung oder Ausübung von Gewalt zur Durchsetzung beziehungsweise Erreichen politischer, militärischer oder krimineller Ziele“ (Wiktionary). Inwiefern schützt irgendetwas, was die Bundeswehr tut, vor eine Bedrohung durch Terrorismus (sofern eine solche Bedrohung überhaupt besteht)? Indem sie politische („Freiheit“, „Demokratie“, „Menschenrechte“), militärische („Sicherheit“, „Frieden“) und ökonomische Ziele durch die Ausübung von Gewalt durchsetzt? Hat militärische Gewalt irgendeinen Ort der Welt je zu einem sichereren, angstfreieren Ort gemacht? Und wenn, dann für wen auf wessen Kosten? Dasselbe gilt für die Missachtung von Menschenrechten: Militärische Gewalt ist selbst regelmäßig eine solche Missachtung und kein geeignetes Mittel gegen sie.
Der erwähnte rhetorische Kniff besteht aber in etwas anderem. Nachdem er behauptet hat, auf Grund menschlicher Schwäche wollten die Leute (also doch wohl „die Deutschen“) mit langfristigen Bedrohungsszenarien nicht behelligt werden, geht er übergangslos dazu über, von Kriegsversehrten und Gefallenen zu sprechen. Da hätte doch aber noch was dazwischen sein müssen, oder? Gerade war Gauck noch „anderswo“, wo Staaten zerfallen. Terror sich ausbreitet und Menschenrechte systematisch missachtet werden, und hast du nicht gesehen, schon humpeln oder rollen deutsche Veteranen nach Hause oder erreichen das Vaterland im Leichensack.
Was dazwischen liegt, hier aber schamvoll verschwiegen wird, ist offensichtlich: Das Behaupten von Bedrohungen ist in parlamentarisch abgesegnete, mit Steuergeldern finanzierte Kriegseinsätze übergegangen. Nur deshalb, nicht auf Grund der — zudem ohnehin höchst fragwürdigen — „Bedrohungen“, gibt es Leute, deren Berufsrisiko es mit sich bringt, dass ihr „Einsatz für Deutschland“ (also ihre Berufstätigkeit, für die sie bezahlt werden) „mit ihrer körperlichen oder seelischen Gesundheit bezahlt“ wird. Diese Leute kommen aus wirklich stattfindenden Kriegen tot oder verkrüppelt heim, nicht aus bloß behaupteten Bedrohungen.
Das ist schlimm und niemandem zu wünschen. Aber ist es denn wirklich so, wie Präsident Gauck es hinstellt, dass nämlich deutsche „Gefallene“ für die deutsche Öffentlichkeit schwer zu ertragen sind? Dass Kriegsversehrte im öffentlichen Bewusstsein nicht präsent sind? Nein, selbstverständlich nicht. Über jeden einzelnen deutschen Toten und Verwundeten wird allenthalben ausführlich berichtet — während beispielsweise afghanische Tote bloße Statistik sind. Mehrfach wurden beispielsweise auch schon Fernsehdokumentationen über Kriegsheimkehrer gedreht, in denen diese sich über nicht verkraftete Erfahrungen ausjammern können, von denen sie sich im Übrigen gefälligst eine Vorstellung machen hätten sollen, bevor sie ihren bedenklichen Beruf wählten. Ganz offensichtlich wird immer wieder den seelischen Wehwehchen Deutscher mehr öffentliche Aufmerksamkeit zuteil als etwa dem Tod und der grässlichen Not von Afghanen.
Allerdings ist es mit der deutschen Begeisterung für „Gefallene“ und Verwundete tatsächlich nicht weit her. Was freilich auch darin seinen Grund haben könnte, dass es einfach nicht so schrecklich viele gibt. Jedenfalls sehr viel weniger als nichtdeutsche Opfer deutscher Militäreinsätze. So sind in den Einsätzen seit 1992 „lediglich“ etwas mehr als 100 Deutsche gestorben. Bis Ende August 2011 waren es 99, davon „nur“ 36 durch Fremdeinwirkung, aber 20 durch Selbstmord. (Zwischen 1957 und 2011 gab es übrigens 3.482 Selbstmorde bei der Bundeswehr.) Man vergleiche diese Zahl mit der der 3.991 Menschen, die allein im Jahr 2011 im deutschen Straßenverkehr getötet wurden. 36 „Gefallene“, das sind gewiss 36 zu viel, aber eben auch viel zu wenige, um solchen „Heldentod“ zu verdrängen. Schwer erträglich sind also nicht die Toten, sondern schwer erträglich ist Herrn Gaucks unsaubere, aus Halbwahrheiten und Mutmaßungen zusammengestückelte Argumentation.
Aber Gauck wäre nicht Gauck, wenn er nicht, kaum dass er die angeblich Unerträglichkeit der Gefallenen erfunden hat, diese seine Erfindung auch gleich wieder bemenschelte, wie er ja auch das von ihm erfundene Nicht-wissen-wollen sofort mit Verständnis überzuckert hatte. Er sagt: „Die Abscheu gegen Gewalt ist verständlich.“ Man darf annehmen, auch wenn es nicht gesagt wird, dass in Gaucks Deutung die Abscheu für Gewalt der Grund für die Ignoranz gegenüber der Bundeswehr und ihren Aktivitäten. Diese Abscheu also findet er „verständlich“. Das ist infam. Das ist, als handle es sich bei Abscheu gegen Gewalt um eine menschliche Schwäche, nicht um eine moralische Tugend. So wie wenn jemand kein Blut sehen kann oder sich im Dunkeln fürchtet. Verständlich, menschlich betrachtet, aber schon irgendwie auch lächerlich und dem Ernst des Lebens gegenüber unangemessen.
Denn Herr Gauck belehrt seine Zuhörer, die das sicher gerne hören (weil es ihre Berufswahl rechtfertigt): „Gewalt, auch militärische Gewalt, wird immer auch ein Übel bleiben. Aber sie kann — solange wir in der Welt leben, in der wir leben — notwendig und sinnvoll sein, um ihrerseits Gewalt zu überwinden. Allerdings müssen wir militärische Einsätze begründen. Wir müssen diskutieren: darüber, ob sie die gewünschten Ziele erreichen oder schlimmstenfalls neue Gewalt erschaffen, und auch darüber, ob wir im Einzelfall die Mittel haben, die für ein sinnvolles Eingreifen nötig sind. All diese Fragen gehören — mit den handelnden Personen — in die Mitte unserer Gesellschaft.“
Schön gesagt. Aber stimmt es auch? Hier gilt es, ausnahmsweise, nicht am Text zu kleben, sondern sich anzuschauen, was in der öffentlichen Rezeption aus dieser Passage wurde. Gauck sprach von Gewalt, die immer ein Übel bleiben wird, und davon, dass sie notwendig und sinnvoll sein können. Zitiert wurde er danach vielfach so, er habe Gewalt ein notwendiges Übel genannt. Diese Zusammenziehung ist viel klarer und ehrlicher als Gaucks eigene Formulierung mit ihrem scheinbaren Einerseits-Andererseits, durch das nur ein logisch-ontologischer Denkfehler übertüncht wird. Denn was schlecht ist, kann nicht zugleich notwendig sein. Zumindest nicht gemäß der abendländischen Denktradition (spätestens seit Augustinus), in der klar herausgearbeitet wurde, dass das Schlechte kein eigenes Sein hat, sondern ein Seinsmangel ist (Privationstheorie). Ein notwendiges Übel gibt es so wenig wie ein hölzernes Eisen. Es handelt sich da im Grunde um Tautologien: Gut ist, was sein soll, und was nicht sein soll, ist schlecht. Nun kann man von einem protestantischen Theologen nicht erwarten, dass er etwas von Theologie verstehe. Ihm hätte aber wenigstens jene Stelle im Römerbrief auffallen könne, wo es heißt: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem!“
Gewalt ist also entweder ein Übel oder notwendig, beides zusammen geht nicht. Außer in der Vorstellung der Stammtische. Dort sagt man sich, die Welt ist schlecht, also müssen wir auch schlecht sein. Der Mensch ist nun mal so, sagt man sich, Gewalt wird es immer geben, und damit die bösen Leute nicht über die Guten, also uns, triumphieren, müssen wir eben auch Gewalt anwenden. Auf diesem Niveau bewegt sich, diesseits ihrer schwafeligen Verkleidung, Herrn Gaucks Argumentation.
Zu seinen Gunsten könnte man annehmen, er rechtfertige nur solche Gewalt, die auf andere Gewalt reagiert, also die Gewaltanwendung aus Notwehr. Nun geht aber, wie bereits erwähnt, kein einziger der bisherigen militärischen Einsätze der Bundeswehr auf einen Angriff auf die Bundesrepublik Deutschland zurück. Von einem Verteidigungsanfall (wie ihn das deutsche Grundgesetz seit 1968 vorsieht) kann keine Rede sein. Aber Gauck ist geschickt, er nimmt das Wort Notwehr in diesem Zusammenhang gar nicht erst in den Mund. Seine Vorstellung eines gerechten Krieges ist eine ganz andere: Ihm genügt es zur Rechtfertigung militärischer Gewaltanwendung, dass diese „begründet“ wurde, dass über sie „diskutiert“ wurde — am besten, das versteht sich von selbst, in der berüchtigten „Mitte der Gesellschaft“. Ist das nicht fein? Man darf Leute umbringen und Sachen zerstören, wenn man einen Grund dafür angeben kann (und besonders schwer, einen Grund zu finden, ist es zum Glück nie) und wenn man fleißig darüber debattiert hat. Lustig ist das Soldatenleben. Ein bisschen Gerede, ein Mehrheitsbeschluss und Abmarsch!
Joachim Gauck versucht, diese bizarre Weltsicht historisch zu illustrieren: „Dass Frieden, Freiheit und die Achtung der Menschenrechte vielfach nicht von allein entstehen — wer wüsste das besser als wir Deutschen? Es waren ausländische Soldaten, die unserem Land die Möglichkeit der Freiheit schenkten, als sie selbst für ihre eigene Freiheit kämpften.“ Dieses Exempel gibt freilich nicht her, was Gauck möchte. Man kann daraus nicht schließen, dass fortan die Deutschen irgendwo auf der Welt alles niederbomben müssten, damit dort Frieden, Freiheit und die Achtung der Menschenrechte hervorsprössen. Die Geschichte lehrt das Gegenteil. Erstens haben die deutschen Kriege 1914-1918 und 1939-1945 nur Verwüstung und unendliches Leid über die jeweils überfallenen Bevölkerungen gebracht. Und zweitens ist Deutschland geradezu der einzige Fall, in dem das mit Demokratie und Rechtsstaat nach dem Zerbomben geklappt hat. Seit 1945 hat kein anderer Krieg einen solchen Effekt gehabt. Nein, nicht militärische Gewalt erzeugt das Gute, sondern die Alliierten haben die Deutschen nach dem verlorenen Krieg mit politischen Mitteln zur Demokratie gezwungen. Ein Sonderfall und kein Beispiel für die Segnungen des Tötens und Zerstörens.
Es ist also ungeheuerlich, wenn Gauck aus dem Offensichtlichen genau die gegenteiligen Schlüsse zieht. Und es wird noch ungeheuerlicher. Nachdem er die deutsche Demokratie aus der alliierten Gewalt abgeleitet hat, setzt der Bundespräsident (der selbst übrigens nie beim Militär war) hinzu: „’Ohne uns’ als purer Reflex kann keine Haltung sein, wenn wir unsere Geschichte annehmen.“ Das ist so infam, dass es einem glatt die Worte verschlagen könnte. Aber nichts da! Man muss die Dummheit Dummheit nennen, auch wenn es einen vor ihr ekelt. Was Gauck da von sich gibt, ist ja nur eine Variation von jenem berüchtigten Sager Heiner Geißlers von 1983: Die Pazifisten haben Auschwitz erst möglich gemacht.
Hätten die Deutschen nach 1945 ihre „Geschichte angenommen“, was wohl heißen soll: Wäre aus der Erfahrung des Ungeheuerlichen politische Folgerungen gezogen worden, so hätte Slogan „Nie wieder Krieg!“ mehr als ein solcher und eine echte Maxime werden müssen. Statt aber in Zukunft nur friedliche Mittel einzusetzen, stellten West- und Ostdeutschland sehr bald wieder Streitkräfte auf. Das entsprach den Wünschen der jeweiligen Verbündeten ebenso wie der eigenen Herrschaftslogik. Kein Staat, der etwas auf sich hält, bleibt ohne Armee. Man hätte sich in Deutschland allerdings auch dafür entscheiden können, nie wieder zu kämpfen, keine Rüstungsindustrie aufzubauen und am militärischen Geschehen künftig nur noch als Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Roten Kreuzes teilzunehmen. Das wäre der Beweis einer gelernten Lektion gewesen. Nach den unzähligen Kriegsverbrechen (und ich zögere nicht, den Krieg als solchen ein Verbrechen zu nennen) des 20. Jahrhunderts auch im 21. immer noch militärische Gewalt vorzubereiten und auszuüben, ist hingegen kein Beweis für „angenommene Geschichte“.
Was Geschichtsannahme aber für Herrn Gauck bedeutet, erklärt er so: „Unsere Bundeswehr hat sich von unseligen militärischen Traditionen gelöst, sie ist fest verankert in einer lebendigen Demokratie. Sie hat unser Zutrauen verdient, nicht nur in Debatten um den ‘gerechten Krieg’ zu bestehen, sondern auch einem ‘gerechten Frieden’ einen Weg zu bahnen, indem sie beiträgt zur Lösung von Konflikten, indem sie friedliche Koexistenz zu schaffen sucht, wo Hass regiert.“ Ob er das alles wirklich glaubt?
Jedenfalls ist das Gegenteil wahr. Bis hin zu den Litzen am Kragen von Generalen steht nahezu alles an der Bundeswehr in bedenklichster Tradition, Kasernen tragen die Namen von Kriegstreibern und Kriegshetzern der letzten Jahrhunderte, und was das besonders „Unselige“, die von Gauck nicht beim Namen genannte Nazi-Zeit, betrifft, so lassen unzählige Vorfälle ahnen, dass man, zwar nicht offiziell, aber gleichsam „von unten“ her, sich auch dieser „Tradition“ durchaus verbunden weiß. Doch auch wenn die Bundeswehrangehörigen allesamt lupenreine Antifaschisten wären, so ergibt sich daraus noch lange kein „verdientes Zutrauen“. Die deutschen Streitkräfte werden, hier sagt Gauck nicht die Wahrheit, in einer Debatte „um den gerechten Krieg“ nicht bestehen, weil Kriege nicht durch Debatten gerechtfertigt werden, wie gewisse Berufsschwätzer Glauben machen wollen, sondern durch Tatsachen. Ethisch gerechtfertigt ist Gewalt nur, wenn sie geeignet ist, ein größere Übel abzuwenden oder abzustellen. Derlei lag aber seit 1945 bei keiner Betätigung einer deutschen Militäreinheit vor. Nicht beim Einmarsch in Prag, nicht bei der Bombardierung Serbiens, nicht in irgendeinem anderen Fall. Es ist, schlicht gesagt, eine dreckige Lüge, die Bundeswehr hätte jemals einem „gerechten Frieden“ einen Weg gebahnt, indem sie zur Lösung von Konflikten beitrug und friedliche Koexistenz zu schaffen versuchte, wo Hass regiert hatte. Deutsche Militäreinsätze haben keine Konflikte gelöst, sondern neue erzeugt, sie haben Tod und Zerstörung bewirkt und neuen Hass erzeugt. Man muss wohl schon protestantischer Pfarrer gewesen sein, um so lügen zu können, wie Joachim Gauck es tut.
Nachdem der Präsident Ziele und Wirkungen der Institution Bundeswehr völlig falsch dargestellt und die Realität hartnäckig beschönigt hat, hält ihn nichts mehr davon ab, von denen, die die Arbeit in der Bundeswehr zum Beruf gemacht haben, ein Heldenlied zu singen. „Freiheit ist ohne Verantwortung nicht zu haben. Für Sie, liebe Soldatinnen und Soldaten, ist diese Haltung selbstverständlich.“ Aus dem Geschwätzigen ins Ehrliche übersetzt heißt das: „Eine weltpolitische Rolle der BRD ist ohne Kriegsteilnahme nicht zu haben. Sie wollen die Handlanger dafür sein.“
Doch weiter in Gaucks Tarn-Deutsch: „Für Sie, liebe Soldatinnen und Soldaten, ist diese Haltung selbstverständlich. Ist sie es auch in unserer Gesellschaft? Freiheit und Wohlergehen sehen viele als Bringschuld von Staat und Demokratie. Manche verwechseln Freiheit mit Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit und Hedonismus. Andere sind sehr gut darin, ihre Rechte wahrzunehmen oder gegebenenfalls auch vehement einzufordern. Und vergessen dabei allzu gern, dass eine funktionierende Demokratie auch Einsatz erfordert, Aufmerksamkeit, Mut, und manchmal auch das Äußerste, was ein Mensch geben kann: das Leben, das eigene Leben.“ Man darf sicher sein, dass an dieser Stelle der Rede in vielen Augen Tränen glänzten. So erbaulich wurde die Wirklichkeit noch selten verdreht. Aus Menschen, deren Beruf es ist zu töten und zu zerstören, macht Gauck aufmerksame, mutige und das eigene Leben nicht schonende Kämpfer für Demokratie. Während es doch wohl so ist, dass zum Erlernen wie zum Anwenden der soldatischen Künste des Tötens und Zerstörens Rohheit und Stumpfheit notwendige Voraussetzungen sind, macht Gauck aus Befehle befolgenden Soldaten Verantwortungsträger, die nicht gedankenlos, nicht gleichgültig, nicht hedonistisch sind. War die Verteidigung von Freiheit, Würde und dem Recht auf Unversehrtheit vorhin noch ein hehres Ziel, so spricht Gauck nun nur noch verächtlich von jenen „anderen“, die Rechte einfordern und wahrnehmen wollen. Verantwortungsloses Gesindel, vaterlandsloses Pack! Freiheit, Würde, Rechte? Drauf geschissen! Demokratie braucht Uniformen und Befehlsketten, braucht Gehorsam und Leichensäcke. So Gauck.
Doch leider, leider: „Diese Bereitschaft zur Hingabe ist selten geworden in Zeiten, da jeder für sich selbst Verantwortung zu übernehmen hat — und zu viele meinen, damit schon genug Verantwortung zu tragen.“ Diese Schweine. Dass es tatsächlich immer noch Menschen gibt, die lieber in Frieden leben als im Krieg töten wollen!
Doch im bitteren Ernst: Wie verdorben oder verstockt muss man eigentlich sein, wenn einem bei „Bereitschaft zur Hingabe“ bloß Soldaten einfallen? Was ist mit Altenpflegern und Sozialarbeitern? Um nur zwei Berufe zu nennen, die nicht nur Hingabe erfordern, sondern auch nützlich sind. Hingabe mag es nämlich auch unter Models, Motorsportlern und Serienkillern geben. Aber Hingabe allein genügt nicht (um ethisch wertvolles Handeln zu kennzeichnen): Wer sich welcher Sache aus welchen Gründen und mit welchen Folgen für andere hingibt, darauf kommt es an.
Das Bild, das Joachim Gauck entwirft — heldenhafte Menschen, die ihr Leben hingeben für eine große Sache einerseits, dumpf und stumpf nur nach billiger Bequemlichkeit und fadem Vorteil strebende „Glückssüchtige“ andererseits — ist infam. Es ist Militarismus in Reinkultur. Man könnte ohne weiteres glauben, nicht der Bundespräsident des Jahres 2012 spreche hier, sondern ein Dorfpastor aus dem wilhelminischen Zeitalter. Das aktuelle deutsche Staatsoberhaupt ist ein erstaunlicher historischer Irrläufer! (Als ich Juni 2010 hier die Glosse „Brecht hätte Gauck gewählt“ veröffentlichte und dabei den Vers „Umarme den Schlächter zitierte“, hatte ich ja keine Ahnung, wie haarscharf ich dabei an einer künftigen Wahrheit vorbeischrammte …)
Weil es allzu absurd und völlig substanzlos ist, soll auf all das, was Gauck dann noch freudestrahlend über das Dienen in der Bundeswehr sagt, hier nicht weiter eingegangen werden. Es erfüllt ja keinen anderen Zweck, als von der Wahrheit abzulenken. Eine auf Befehl und Gehorsam beruhende Institution wird umgedeutet zum Teil des deutschen „Demokratiewunders“, statt von Töten und Zerstören ist von Verantwortung die Rede, statt von den echten Kriegszielen (Machtpolitik, Sicherung des Zugriffs auf Ressourcen) wird von Menschenwürde und Freiheit geschwafelt.
Mit solcher Vernebelung und Lügerei erledigt Joachim Gauck, was man von ihm erwarten kann. Er ist ja ein Präsident, der im wahrsten Sinne von „Kriegsparteien“ gewählt wurde, den alle fünf, CDU, CSU, SPD, Grüne und FDP haben deutschen Kriegseinsätzen wiederholt zugestimmt. Gauck dient also, ganz wie es ihn die „Theologie“ des Protestantismus gelehrt hat, den herrschenden gesellschaftlichen Kräften, kurz gesagt: dem „Kapital“. Denn nichts anders als wirtschaftliches Interesse steht hinter dem mit vielen hübschen Worten nur notdürftig kostümierten Militarismus. Bundespräsident Horst Köhler hatte in einem Anfall geistiger Klarheit darüber gesprochen*. In der Folge musste er sein Amt aufgeben. Joachim Gauck macht nicht den Fehler, die Wahrheit zu sagen. Vielmehr dient er seinen Auftraggebern mit echter Hingabe, ganz der braver Soldat, der er, diesseits seiner Rhetorik, nie war.

 * „Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.“ (Welch ein Irrglaube …)

Montag, 9. Juli 2012

Aufgeschnappt (bei einer Gutgläubigen)

I organized the first forty-four years of my life (I'm forty-five  now) around the belief that if you just explain something to someone clearly enough they could understand you. It has been very hard for me to come to terms with the fact that people dont't want to know what's true. I still can't even face that, but I believed in people and their ability to do good and to unterstand.

Sarah Schulman (Schriftstellerin, Wissenschaftlerin, Aktivistin)

Samstag, 7. Juli 2012

Butler, Hamas, Hisbollah, Niedertracht

Lügen haben kurze Beine. Sagte man früher. Das Internet hat da etwas verändert, denn es macht manchen Lügen Beine, die zwar immer noch kurz sind, aber, wie bei Tausendfüßlern, das Fortkommen nicht hindern, im Gegenteil. So unwahr kann etwas gar nicht sei, dass es nicht erstens in Windeseile weltweit verbreitet würde und zweitens auch dann nicht aus der Welt zu schaffen ist, wenn es bereits mehrfach widerlegt wurde. Die Lüge bleibt wie das, was sie als solche überführt, im kollektiven Archiv und taucht immer wieder auf, als wäre nichts gewesen, was ihr im Wege hätte stehen müssen.
Beispiele für solch zähe Unwahrheiten, die trotz mehrfachen Widerlegens immer und immer wieder behauptet werden, sind Legion. Nur ein Beispiel also ist die gerade derzeit wieder häufiger zu lesende Behauptung, Judith Butler sei eine Unterstützerin von Hamas und Hisbollah oder habe diese beiden Organisationen zumindest dafür gelobt, fortschrittlich und Teil einer globalen Linken zu sein. Diese Lüge wird seit 2006 verbreitet und hat in diesen Tagen wieder Konjunktur, seit bekannt wurde, dass Butler im Herbst 2012 den Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt am Main erhalten wird.
Auch wenn es zwar, wie eingangs festgestellt, nichts nützen wird, Unwahrheiten mit Tatsachen zu konfrontieren, so kann es doch nichts schaden, all denen, die weder dumm noch bösartig sind, einiges in Erinnerung zu rufen oder erstmals vorzustellen, was die Lüge von Butler als „Hamasfan“ (und „Israelhasserin“) widerlegt.
Im Jahr 2006 — Israel war wieder einmal im Libanon einmarschiert — nahm Judith Butler, Professorin für Rhetorik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der kalifornischen Universität zu Berkeley, ebendort an einem „Teach-In Against War“ teil. Am Ende der Veranstaltung wurden Fragen aus dem Publikum beantwortet. (Die gesamte „Question and Answer Session“ kann auf YouTube gesehen und gehört werden; hier wird nur ein Teil davon behandelt.) Zwei Fragestellerinnen wandten sich ausdrücklich an Judith Butler. Die eine war auf Grund ihres starken asiatischen Akzents und ihres Herumfuchtelns mit dem Mikrophon schwer zu verstehen, scheint aber danach gefragt zu haben, warum linke Friedensaktivisten und Intellektuellen zurückhaltend mit ihrer Unterstützung für die (im Gaza-Streifen) demokratisch gewählte Hamas und die (im Libanon ebenfalls als demokratisch gewählte Partei auftretende) Hisbollah wegen deren gewaltsamer Anteile seien. Die zweite Fragestellerin, mit einem mutmaßlich österreichischen Akzent, fragte ebenfalls nach Hamas und Hisbollah und was es mit der Forderung auf sich habe, Israel von der Landkarte zu streichen.
In ihrer Antwort ging Judith Butler jedoch zunächst auf einen vorherigen Fragesteller ein, der gefragt hatte, ob Macht und Einfluss der „Israel-Lobby“ legitim seien und ob jede Kritik an dieser antisemtisch sei. Butler anwortete: „I would just briefly say: I think it’s imperative to figure out what the mechanisms are of the various lobbies in the US – the American Jewish Congress, the American Jewish Committee, the Anti-Defamation League – how they work to help to formulate US policy toward Israel. I think there’s no question we need an honest, rigorous appraisal. I think there are some versions of it that strike me as perhaps a little too easily subscribing to conspiracy theories, and I think that there can be an antisemitic version, and there can be a really useful, critical version as well. I have no doubt it’s a very powerful lobby – I actually think of it as multifaceted – and I think we need more careful, rigorous analyses of it.“ (Ich übersetze das so: „In aller Kürze gesagt, ich denke, es ist erforderlich, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was die Mechnaismen der verschiedenen Lobbys in den USA sind — des American Jewish Congress, des American Jewish Committee, der Anti-Defamation League — wie sie zusammen- und daran mitwirken, um die US-Politik gegenüber Israel zu gestalten. Ohne Frage braucht es eine ehrliche und gründliche Einschätzung. Ich denke, es gibt da einige Spielarten, die mir ein bisschen zu rasch Verschwörungstheorien anhängen, und ich denke, es kann eine antisemitische Darstellung geben und es kann ebenso eine wirklich sinnvolle, kritische Darstellung geben. Ich zweifle nicht daran, dass es sich um eine sehr mächtige Lobby handelt — ich halte sie genau genommen für in sich vielfältig —, und ich denke, es braucht mehr sorgfältige und gründliche Analysen dieses Themas.“
Dann setzt Butler hinzu: „So you know the short answer is: one neither has to dispute the existence of such a lobby, or its power, to prove that one is not antisemitic; but neither does one have to accept every version of that, given that some versions are, I think, problematically bound up with conspiracy theories.“ (Meine Übersetzung: „Kurz gesagt, man muss weder die Existenz einer solchen Lobby noch ihre Macht bestreiten, um zu beweisen, dass man nicht antisemitisch ist, noch muss man alle Lesarten akzeptieren, zumal manche davon, wie mir scheint, auf problematische Weise mit Verschwörungstheorien verbunden sind.“)
Erst danach kommt Butler auf Hamas und Hisbollah zu sprechen. Sie sagt: „Similarly, I think: Yes, understanding Hamas, Hezbollah as social movements that are progressive, that are on the Left, that are part of a global Left, is extremely important. That does not stop us from being critical of certain dimensions of both movements. It doesn’t stop those of us who are interested in non-violent politics from raising the question of whether there are other options besides violence. So again, a critical, important engagement. I mean, I certainly think it should be entered into the conversation on the Left. I similarly think boycotts and divestment procedures are, again, an essential component of any resistance movement.” (Ich übersetze das: „Ebenso, denke ich: Ja, Hamas und Hisbollah als soziale Bewegungen zu verstehen, die fortschrittlich sind, die links sind, die Teil einer globalen Linken sind, ist von großer Bedeutung. Das hält uns nicht davon ab, gegenüber gewissen Aspekten dieser beiden Bewegungen kritisch zu sein. Es hält die von uns, die sich für gewaltlose Politik einsetzen, nicht davon ab, die Frage zu stellen, ob es außer Gewalt nicht noch andere Optionen gibt. Also wiederum: kritisches, wichtiges Engagement. Ich bin überzeugt, das sollte zur Auseinandersetzung auf der Linken gehören. Ebenso meine ich, dass Boykotte und Kapitalabzug ein wesentlicher Teil jeder Widerstandsbewegung sind.“)
Und daraus will man Judith Butler einen Strick drehen? Auf Grund dieser improvisierten Antworten in einem Teach-In erklärt man sie zur Unterstützerin von Terrororganisationen? Es wäre lächerlich, wenn es nicht vor allem niederträchtig wäre.
Butler hat in ihrer Antwort auf ihr gestellte Fragen nicht von sich aus Hamas and Hisbollah zu linken Bewegungen erklärt (und schon gar nicht gesagt, dass sie diese Organisationen unterstützt oder auch nur gut findet), sie hat aufgegriffen, was die Fragestellerin Behauptung voraussetze. Und daran ist auch nichts Falsches. Ob es einem gefällt oder nicht, Hamas und Hisbollah sind soziale Bewegungen, ihr Anspruch ist es, Unterdrückung zu bekämpfen und eine, wie sie es sehen, freiere und gerechtere Gesellschaft aufzubauen. Insofern sind sie „fortschrittlich“ und sogar „links“. Dass das jeweils erstrebte islamistisch geprägte Gemeinwesen, auf das die beiden Bewegungen hinauswollen, nach anderen Kriterien wiederum selbst repressiv und ungerecht sein könnte, ist ein anderes Thema; keineswegs ein weniger wichtiges, aber keines, das in der damaligen Frage-und-Antwort-Runde zur Debatte stand.
Ihre eigene Beurteilung der Ziele von Hamas und Hisbollah hat Judith Butler bei jener Gelegenheit jedenfalls nicht erörtert, sie hat nur aufgegriffen, was jemand anderer gesagt hat, und zugestimmt, dass das Thema wichtig ist. Daran ist, wie gesagt, nichts Falsches. Zu sagen, dass Hamas und Hisbollah als soziale Bewegungen zu verstehen sind, die zur globalen Linken gehören, macht niemanden zum Anhänger dieser Bewegungen oder gar zum Befürworter von Terrorismus, so wenig es jemandem zum Terroristen macht, wenn er sagt, die RAF müsse als Teil des linken Feldes im Westdeutschland der 70-er Jahre verstanden werden.
Im selben Atemzug jedoch — das macht die Rhetorikprofessorin deutlich hörbar! —, in dem sie die Wichtigkeit, Hamas und Hisbollah als Teil einer globalen Linken zu verstehen, zugesteht, besteht Butler jedoch darauf, die Gewaltbereitschaft und tatsächliche Gewaltausübung dieser Bewegungen zu kritisieren. Was für sie, die für Gewaltfreiheit eintritt, fraglos bedeutet, die Gewalt zu verwerfen. Niemand, der die Texte Judith Butlers kennt, kann daran zweifeln. (Leider reden weit mehr Leute über Butler, als sie Leserinnen und Leser hat …)
Es ist also falsch, dumm und bösartig, auch nach sechs Jahren immer noch das Lügenmärchen aufzutischen, Judith Butler habe zu irgendeinem Zeitpunkt die terroristische Politik von Hamas und Hisbollah unterstützt.
Bereits vor zwei Jahren erklärte Butler (in einem Gespräch mit Katharina Hamann, das in „Jungle World“ Nr. 30 / 29.6.2010 veröffentlicht wurde) unmissverständlich: „Als Antwort auf eine Frage aus dem Auditorium habe ich gesagt, dass – deskriptiv gesehen – diese Bewegungen in der Linken zu verorten sind, doch wie bei jeder Bewegung muss jeder für sich selbst entscheiden, ob er sie unterstützt oder nicht. Ich habe keine der genannten Bewegungen jemals unterstützt, und mein eigenes Engagement gegen Gewalt macht es unmöglich, das zu tun. Man könnte viel darüber sagen, wie diese Bewegungen entstanden sind und was ihre Ziele sind. Das würde bedeuten, sie als Bewegungen gegen Kolonialismus und Imperialismus zu verstehen. Jede Analyse müsste auch die gesellschaftlichen Dimensionen und den Ort der Gewalt im Kampf dieser Gruppen mit einbeziehen. Ich selbst habe mich deutlich gegen Gewalt ausgesprochen und in meinem Buch ‘Raster des Krieges’ für reflexive, nicht gewalttätige Formen argumentiert. Ich habe also eine Meinung dazu, wie diese Bewegungen beschrieben und analysiert werden sollten, aber ich arbeite nicht mit ihnen zusammen und habe mich niemals für diese Bewegungen ausgesprochen.“
Niemand, der nicht böswillig ist, kann das je anders gesehen haben, doch: „Diese schrecklich missverstandene Aussage wurde dazu benutzt, mich in Zeitungen und auf Websites zu diskreditieren. (…) Denn wenn ich wirklich ‘pro-Hamas’ wäre, wäre ich als Gesellschaftskritikerin nicht mehr glaubhaft. Doch diese Kritik ist niederträchtig, sie beruht nicht auf Fakten und lässt meine öffentlich geäußerte Haltung zu diesen Themen außer Acht.“ Und noch einmal, in aller wünschenswerten Klarheit: „Wenn Hamas und Hizbollah antisemitische Positionen vertreten, dann sind sie unbedingt abzulehnen. Doch man muss genau analysieren, ob in der Kritik Israels Antisemitismus im Spiel ist oder nicht. Die Vorstellung, dass jede Kritik an Israel antisemitisch ist, lehne ich ab. Ich glaube, das ist eine reflexhafte Antwort, und zwar eine, die sich der Verantwortung entzieht, die Situation tatsächlich zu beurteilen. Denn es gibt im Judentum selbst eine starke 'kritische' Tradition. Der einzige Grund, warum ich glaube, dass, deskriptiv gesehen, diese Gruppen unter die Kategorie 'links' gehören, ist, weil sie gegen Kolonialismus und Imperialismus kämpfen. Für Hugo Chávez könnte dasselbe gesagt werden, und es ist richtig, über seine Politik zu diskutieren und zu entscheiden, ob man sie unterstützt oder nicht. Im Bezug auf Hamas und Hizbollah bedeutet das, zu diskutieren, ob ein gewalttätiger Widerstand akzeptabel ist, und ich selbst habe mich entschieden, gewaltlosen Widerstand zu unterstützen.“
Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen. Und doch wird der Tausendfüßler „Butler ist Hamasfan“ in verschiedensten Versionen weiter durchs Internet kriechen und nicht aufzuhalten sein. Aber der eine oder andere Wohlmeinde oder doch nicht völlig Verbohrte, der bisher Fehldarstellungen aufgesessen ist, wird durch die hier gebrachten Zitate vielleicht doch etwas Neues erfahren haben und eines Besseren belehrt worden sein. Das ist schon so ziemlich alles, was man heutzutage im Internet gegen Lügen ausrichten kann.