Sonntag, 27. November 2016

1. Advent 2016

War’s das schon oder kommt da noch was? Das kann doch noch nicht alles gewesen sein. Das Unbehagen demgegenüber, dass dieses Leben, das man bisher geführt hat und das man voraussichtlich so bis zum absehbaren Ende führen wird, das Gefühl des Ungenügens demgegenüber, dass diese Welt, in der man lebt und in der man irgendwann sterben wird, schon alles ist, was man berechtigterweise erwarten darf, das Unbehagen, mit anderen Worten, am sogenannten Diesseits, seiner Beschaffenheit und der eigenen Rolle darin, dieses Unbehagen mag es hie und da bei diesem oder jenem noch geben, im Großen und Ganzen jedoch sind die Gegenkräfte sehr bemüht, es den Leuten auszutreiben. Und diese Kräfte haben, wenn schon nicht die besseren Argumente, so doch sehr effiziente Instrumente auf ihrer Seite. Die ganze gewaltige Maschinerie der Ablenkung, Bespaßung und Infantilisierung, der die Insassen der westlichen Konsumgesellschaften unterworfen sind, läuft auf die eine Botschaft hinaus: Die Welt ist vielleicht nicht schön und die Verhältnisse sind vielleicht grauenvoll, aber was kümmert’s dich, du brauchst doch nichts anderes zu tun, als es dir gemütlich zu machen, dich in der wunderschönen Warenwelt einzurichten und von einem guten Leben zu träumen, und alles was dafür von dir verlangt wird, sind deine Arbeitskraft, deine Wünsche und Begehrlichkeiten und dein Gewissen. Und wenn einer zwischen Unterhaltungselektronik, Sommerurlaub, Kleinfamilienterror und Selbstvermarktungshektik doch noch Platz hat, darf er gerne auf die ideologischen Angebote zurückgreifen. Evolutionismus, Tiefenpsychologie, Hirnforschung, Genforschung usw. wissen alle dasselbe zu berichten: Du bist nicht schuld, du bist nicht verantwortlich, da kannste nichts machen. Das widerspricht zwar ein wenig dem sonstigen Imperativ, sich dauernd zu optimieren, sich marktkonform zu verhalten und die richtigen Kaufentscheidungen zu treffen, ist doch aber gerade dann, wenn’s dabei kriselt, so herrlich entlastend. Der Mensch ist auch nur ein Tier, das Ich nicht Herr im eigenen Hause, die Willensfreiheit eine Illusion, weil das Hirn alles für einen entscheidet, und die Gene haben einen auf all das programmiert, was man ist und was einem widerfährt. Und wenn du tot bist, bist du tot. Ja sicher, man lebt in den Erinnerungen der Menschen weiter, die einen geliebt haben, aber mal ehrlich, wie viele waren das schon, zumal gegen Ende? Nein, nein, der Tod ist das Ende, da kommt nichts mehr, alles andere ist Illusion, kindliche Tröstung, frommes Gerede. Derlei zu akzeptieren, muss umso leichter fallen, je diesseitiger das Leben vor dem Tode gelebt wurde. Wer sich vor allem um sich selbst gekümmert hat und um andere nur, sofern sie im Gefühlshaushalt eine produktive Rolle spielten; wer sich nicht für die herrschenden Verhältnisse interessiert hat und um das Leid, das sie für so viele bedeuten; wer sich nur darum gesorgt hat, was er außer dem, was er schon hat, noch haben kann, und sich nie ohne Not gefragt hat, worauf er verzichten könnte; wer nie das in dieser Welt nicht aufhebbare und nicht ausgleichbare Unrecht, das Leiden und den Tod als unerträgliche Zumutung erfahren hat; wer also, kurz gesagt, ein rein diesseitig orientierter Materialist und Egoist ist, bei dem ist klar, dass er von irgendeiner Transzendenz nichts wissen will. Er könnte jedoch sogar ein engagierter Idealist sein, gegen das Unrecht auftreten, Leiden zu lindern versuchen und für eine bessere Welt kämpfen — wenn es sich dabei immer nur um diese Welt handeln, sind diese Bemühungen, so gut und ehrenwert sie für sich genommen wären, letztlich zum Scheitern verurteilt. Denn gesetzt selbst, es ließe sich das Paradies auf Erden errichten und alle Menschen lebten in gerechten Verhältnissen, Wohlstand und geistigem Reichtum, was würde aus all dem Leiden, das es bis dahin gab, aus all dem Unrecht und der Schuld dafür und was würde aus den Toten? Selbst wenn es nämlich gelänge, den Tod zu besiegen und die gerade Lebenden für immer am Leben zu halten, die bis dahin Gestorbenen wären und blieben doch tot. Mit anderen Worten, selbst wenn, was angesichts der bestehenden Wirklichkeit völlig unwahrscheinlich ist, eines Tages auf Erden alles gut würde, es bliebe doch die Vergangenheit, die nicht gut war. Darf das sein? Materialismus, Egoismus, Konsumismus, Immanentismus haben auf diese kleine, aber alles entscheidende Frage keine befriedigende Antwort, keine, die jenes Unbehagen aufheben könnte, das nicht bloß am eigenen Wohl und Wehe entzündet, nicht am eigenen Glück, sondern nicht zuletzt am Unglück der anderen, am diesseitig irreparablen Unglück derer, die litten und starben, die entwürdigt und entrechtet wurden, die man sowohl um ein Minimum wie um das Maximum an gutem Leben in dieser Welt betrog. Die Ideologen der reinen Diesseitigkeit haben darauf, wie gesagt keine Antwort. Darauf antwortet nur die Religion.

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