Sonntag, 4. Dezember 2016

2. Advent 2016

Nur die Religion, sagte ich, antwortet auf die Frage, was aus dem vergangenen Leben, dem Leiden, dem Unglück, der Schuld, dem Totsein wird — wenn man denn als Antwort mehr erwartet als ein Schulterzucken. Aber „die“ Religion gibt es nicht. Und dass alle Religionen dasselbe wollen, ist ein weniger frommer als dummer Spruch. Denn alles Religiöse auf dasselbe Habt-euch-lieb-Schema zurückzustutzen, hat mit der Realität nichts zu tun. Die Praxis eines Aztekenpriesters, der Kriegsgefangenen bei lebendigem Leibe das Herz herausschneidet, um es der Sonne darzubringen, hat mit der Praxis eines sich in Gedankenleere übenden Zen-Meister herzlich wenig zu tun. Man wende nicht ein, das seien Äußerlichkeiten. Religion ist konkretes Tun, die Lehre folgt dem nach (oder auch nicht). So man denn überhaupt eine Begriffsbestimmung wagen dürfte, dann vielleicht: Religionen sind Weisen, sich zu dem, was man mit westlichem Ausdruck Transzendenz nennen könnte, zu verhalten. Sie binden, anders gesagt, das Leben in der Welt durch bestimmte Praktiken zurück an ein dieses Übersteigendes.
Wenn sich also die Weisen des Verhaltens unterscheiden, dann sind die Religionen verschieden, und über das Konkrete hinaus irgendeinen diffusen „humanistischen“ Kern identifizieren zu wollen, verfehlt das Wesentliche. Religiöse Praxis überschreitet gerade den Bezirk des Menschlichen, aber nicht um ins Inhumane, Animalische, gar Bestialische abzugleiten, sondern um außerhalb der Bedingtheiten dieser Welt sich dem zuzuwenden, was Dinge Dinge und Menschen Menschen sein lässt. Sich ihm zuzuwenden, womöglich rühmend, dankend, bittend, es aber auch zu bannen, von seiner Ungeheuerlichkeit, seiner menschliches Maß übersteigenden Macht nicht vernichtet zu werden. Ohne Ehrfurcht, als rein technisches Geschehen, ist religiöse Praxis nämlich undenkbar (oder wird zur Blasphemie).
Zumal am Ursprung aller Religion nicht Spekulation steht, sondern Empirie. Das alles bis dahin Erlebte Übersteigende ist nicht ausgedacht, sondern erfahren. Diese Erfahrung mag mehr oder minder deutlich sein, sich mehr oder minder in Vorstellungen und Erzählungen ausprägen, entscheidend ist die Intensität. Diese Intensität zu bewahren und zu reaktivieren, ohne an ihr zu Grunde zu gehen, das begründet Religion.
Wer erlebt hat, dass da mehr ist, als sich anfassen oder begreifen lässt, sieht die Welt mit anderen Augen. Die Erfahrung des Unbedingten fordert das von selbst. „Du musst dein Leben ändern.“ Lässt man hingegen nur die Dinge gelten — und den Menschen als Ding unter Dingen —, gibt es streng genommen keine Möglichkeit des Sollens. Was ist, ist, was nicht ist, ist nicht. Also kann auch kein Widerspruch zwischen dem bestehen, was ist, aber nicht sein soll, und dem, was nicht ist, aber sein soll. Bloße Immanenz kann weder Ethik verstehen noch Gerechtigkeit oder berechtigte oder unberechtigte Hoffnung.
Aber jeder Mensch, der noch nicht völlig abgestumpft ist (oder durch Materialismus verblödet) will mehr. Wer wirklich liebt, will die Ewigkeit des Daseins des Geliebten, weit mehr noch als die des eigenen, will kein Leiden und keinen Tod. Keine Macht der Welt aber kommt dagegen an, weder gegen das Unglück und Unrecht, noch gegen den existenziellen Widerspruch dagegen im Namen der Bejahung des Lebens und der Freude.
Beides also, die Erfahrung, dass es etwas gibt, was über das, was es gibt, hinausgeht, ebenso wie die, dass es das geben muss, weil das, was ist, nicht alles gewesen sein kann, macht Religion, das Verhalten zum Unbedingten, unabdingbar.

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