Samstag, 25. November 2017

Das Gesetz und der Flüchtling

Du bist kein Flüchtling, sagt das Gesetz zum Flüchtling. Denn wer ein Flüchtling ist, bestimme ich, und dein Fall fällt nicht darunter.
Du magst mich nennen, wie du willst, hochverehrtes Gesetz, sagt der Flüchtling. Wir wollen hier nicht um Wörter streiten. Fest steht …
Um Begriffe, unterbricht das Gesetz. Ich streite nie um Wörter, ich bestimme Begriffe.
Wir wollen, hochverehrtes Gesetz, fährt der Flüchtling fort, hier weder um Wörter noch Begriffe streiten. Fest steht …
Ich streite gar nicht, unterbricht das Gesetz. Was ich sage, gilt.
Selbstverständlich, sagt der Flüchtling, was du sagst, gilt, hochverehrtes Gesetz. Fest steht, dass ich auf der Flucht war. Und zweifellos kann man einen, der auf der Flucht war, einen Geflüchteten nennen. Was aber soll der Unterschied zwischen einem Geflüchteten und einem Flüchtling sein?
Was geht mich das an?, sagt das Gesetz. Für mich bist du kein Flüchtling, das genügt mir.
Worum es mir geht, sagt der Flüchtling, sind nicht Wörter oder Begriffe oder Paragraphen. Mir geht es um mein Leben. Ich war auf der Flucht und habe nach Zuflucht gesucht, nicht nach Wörtern, Begriffen, Paragraphen.
Ordnung muss sein, sagt das Gesetz.
Ordnung muss sein, sagt der Flüchtling. Aber …
Du hast keinen Anspruch auf Asyl, sagt das Gesetz. Dein Fall erfüllt meine Kriterien nicht.
Ich habe nicht nach Asyl gesucht, sagt der Flüchtling. Ich war auf der Flucht und suchte Zuflucht. Ich floh vor dem Tod. Ich floh vor einem schlechten Leben und suchte ein besseres.
Du hast keinen Anspruch auf Duldung, sagt das Gesetz. Dein Fall erfüllt meine Kriterien nicht.
Ich habe nicht nach Duldung gesucht, sagt der Flüchtling. Ich war auf der Flucht, suchte Zuflucht und hatte gehofft, sie hier zu finden, hatte gehofft, hier bleiben zu dürfen, um ein Leben zu leben, das besser ist als das Leben dort, von wo ich geflohen bin. Wie du das nennst, ist deine Sache.
Ich nenne es, wie ich will, sagt das Gesetz. Ich bin das Gesetz. An mich muss du dich halten.
Aber bist du denn auch mein Gesetz?, fragt der Flüchtling.
Ich gelte für alle, sagt das Gesetz.
Du schließt mich aus und schickst mich weg, sagt der Flüchtling, du sagst mir, dass ich nicht hierher gehöre, dass ich nicht dazu gehöre, das ich hier nicht sein darf, aber du bist auch mein Gesetz?
Ich gelte für alle, wiederholt das Gesetz. So lange du hier bist, gelte ich auch für dich. An mich musst du dich halten. Weil du hier bist, schicke ich dich weg.
Verstehe ich das richtig?, fragt der Flüchtling. Auf der Flucht galtest du noch nicht für mich, erst seit ich nicht mehr auf der Flucht bin, sondern hier, giltst du auch für mich und sagst mir, hochverehrtes Gesetz, dass ich gar nicht auf der richtigen Flucht war und darum gar kein richtiger Flüchtling bin?
Ich bestimme die Begriffe, sagt das Gesetz. An mich musst du dich halten.
Du bist, sagt der Flüchtling, das, wovor ich geflohen bin. Du bist das Unrecht, die Unterdrückung, die Verfolgung. Du bedeutest Bedrohung und Tod. Ich suchte Schutz bei dir, aber du schützt mich nicht. Ich wollte mich an dich halten, aber du weist mich ab. Du bist nicht mein Gesetz. Du bist das Gesetz derer, denen mein Leben nichts gilt.
Ich bin das Gesetz, sagt das Gesetz. Ich gelte für alle. Ich gelte auch für dich. An mich muss du dich halten. Geh weg. Du hättest nicht kommen dürfen. Du darfst nicht hier sein. Geh weg. Wenn du nicht gehst, sperre ich dich ein, damit du gehst. Mit Gewalt schaffe ich dich fort. Geh weg.
Wenn ich kein Flüchtling bin, sagt der Flüchtling, wenn meine Flucht keine Flucht war, dann bin ich gar nicht geflohen, dann bin ich gar nicht hier, dann kann ich auch nicht fort.
Geh weg, sagt das Gesetz. Das ist mein letztes Wort.

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